... für Leser und Schreiber.  

Mondnacht

98
98 Stimmen
   
©  Holmes   
   
Vormittags saß sie ihre Pflicht zwischen all den anderen ab. In Gedanken weit weg, während die Lehrer, ebenfalls alle nicht sehr gut gelaunt, und die Stunden, die sich in die Länge zogen, wechselten. In den Pausen ging sie mit einer "Freundin" in die Raucherecke. Zu den anderen "Freunden". Die hatten sich schon an ihre schwarzen Klamotten gewöhnt, an das dunkle Make up, das Schweigen welches sie umgab.
Im Gegensatz zu den Eltern.
Die fanden weder die Kleidung, noch das Make up "angemessen". Das Schweigen bemerkten sie noch nicht mal. Kein Wunder, in der kurzen Zeit, die sie mit ihr verbrachten, konnten sie es nicht wahrnehmen.
Auf die Frage, ob sie auch heute Abend in die übliche Disko kommen würde nickte sie. Die anderen unterhielten sich weiter, kümmerten sich nicht um sie.
Nach der Schule ging sie einen Umweg, nein, eilig hatte sie es nicht. Sie besuchte ihren Lieblingsort, den stillen, ruhigen Friedhof. Unter einer Tanne suchte sie ihren Block aus dem schwarzen Eastpack, einen roten Stabilo und fing an zu schreiben. Schreiben konnte sie gut. Egal was es war, ob nun ein Gedicht, eine Kurzgeschichte, oder ein neuen Text zu einem alten Lied, es war alles mitreißend, aber dennoch distanziert. Gefühle konnte sie gut übermitteln, allerdings wirkten sie auf den Leser kalt und verzweifelt. Aber außer ihrem Freund bekam niemand diese Texte zu sehen. Sie wollte die Texte für ihn bewahren, sie waren etwas intimes.
Nachdem sie ihr neues Gedicht fertig gestellt hatte lehnte sie sich zurück, sah nach oben durch die Zweige in die Sonne. Die Tränen auf ihrem Gesicht glitzerten. Sie hasste sich für ihre Gefühle, für ihre Tränen.
Zuhause war sie an dem Tag nur kurz. Hat den Rucksack abgelegt, das verschmierte Make up erneuert, sich umgezogen. Natürlich wieder schwarz. In ihre dunkle, gestrickte kleine Tasche packte sie das übliche: den Umschlag mit all ihren Texten, ihr Make up, eine Schachtel Zigaretten, ihr kleines Taschenmesser, ein Feuerzeug und den Geldbeutel. Mit dem Bus fuhr sie einen Ort weiter und betrat die Disko. Diese elektronische Musik war nicht ihr Geschmack und Menschenmengen waren auch nichts für sie, aber was sollte sie sonst machen? Zuhause bei den Eltern bleiben wollte sie nicht. Also lieber schlechte Musik und Platzangst.
An diesem Abend fragten 4 Jungs nach einem Tanz, immer schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ja einen Freund. Die meistens Jungs hier kannten sie schon, den traurigen, fesselnden Blick ihrer dunklen Augen, ihre Klamotten, die ihr sehr gut standen, aber auch das Kopfschütteln, wenn sie nach einem Tanz gefragt wurde.
Nach 3 Stunden hatte sie genug. Sie verließ die Disko und ging die kleine Straße entlang, zu ihrem Ort. Es waren mehrere Kilometer, aber auch das gehörte zu den Diskobesuchen. Sie mochte die Ruhe, das Schweigen nach der lauten Musik.
Als sie wieder unter der Tanne saß fror sie. Sie saß still da, bewegte sich nicht, überlegte. Plötzlich stand sie auf, schnitt mit dem Messer eine jetzt geschlossene, weiße Rose von dem Strauch an der Ecke des Weges ab und kehrte wieder zur Tanne zurück. Sie verteilte die weichen Blätter um sich herum und legte sich in das stachelige Gras. Während der Erdboden dunkler wurde las sie ihm alle Texte vor, verteilte das Papier rund um sich herum.

Eine Stunde später wurde sie, umgeben von im Mondlicht leuchtenden Rosenblättern und Schriftstücken und mit einem friedlichen Lächeln im Gesicht, unter der Tanne, auf dem Grab ihres Freundes gefunden. Mit blutigen Schnittwunden an beiden Armen, neben den die weiße Haut verunstaltenden Narben, ist sie zu ihm gegangen.


[Hatte ich bereits unter Rally Vincent hier veröffentlicht]
 

http://www.webstories.cc 17.05.2024 - 06:44:08