... für Leser und Schreiber.  

Mondnacht, die zweite

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©  Holmes   
   
Also, das ist die zweite, etwas längere Version. Es war ein Versuch, ihren Charakter besser herauszuarbeiten. Ich finde sie gelungener als die erste. Bitte um eure Meinungen!

Sonnenlicht. Überall helles Sonnenlicht. Das Grün der Bäume leuchtete, der kleine Teich, eingebettet in grauen Beton, glitzerte und die laut tickende Uhr warf Spiegelungen an die hellgelbe Wand.
Ihre Augen verloren sich in dem strahlend blauen Himmel, schreckten auf, als die Schulglocke erklang und die zweite Pause verkündete. Die Klasse strömte durch die Tür, reihte sich im Schulgang in die Flut der nach draußen stürmenden Schüler ein. Sie ließ sich mitziehen und blinzelte, als plötzlich die Lichtstrahlen auf ihr Gesicht fielen.
Selbst in dieser großen Menge an Schülern stach sie hervor: ihr schmaler, so zerbrechlich wirkender Körper, ihre dunklen Augen, in denen sich der Schmerz und das Leid der gesamten Welt zu sammeln schienen, die aber auch sanft und tief wirkten, ihr blasses, fein gezeichnetes Gesicht, dass zu ihren langen, tiefschwarzen Haaren einen starken Kontrast bildete. Manchmal, wenn sie lautlos, nur durch einen Luftzug verraten, an einem vorbei schlich, wirkte sie wie ein Geist aus längst vergangener Zeit.
In einer schattigen Ecke des Hofes suchte sie eine Zigarette aus ihrer Hosentasche. Wann hatte sie eigentlich angefangen zu Rauchen? Und warum? Sie wusste es nicht mehr, wollte es auch nicht wissen. Vielleicht war es ja wegen ihren Freunden, wegen den gleichen Personen, die gerade neben ihr standen und sie auf Grund ihres üblichen Schweigens mal wieder ignorierten. Ab und an lächelten sie ihr zu, doch ganz in Gedanken versunken merkte sie es nicht.

*Hey?Hallo? Hörst du zu?*
Eine Hand wedelte vor ihrem Gesicht herum.
*Ja?was ist denn?*
Ihre leise Stimme schien das sonst so normale Schweigen nicht zu brechen, sondern zu vollenden.
*Kommst du heute Abend auch in die Disko?*
*Ja, denke schon...*
*Hm? Ok, dann sehen wir uns ja vielleicht!*
Sie nickte nur und trat, als sie das Klingeln der Pausenglocke hörte, auf ihren noch glühenden Zigarettenstummel am Boden und kehrte langsam zurück zum Klassenzimmer.

Vom weiteren Unterricht bekam sie kaum etwas mit, starrte auf die langsam wandernden Schatten der Bäume. Einige Jahrzehnte lang standen sie schon auf dem Hof, warfen erhaben dunkle Muster auf den glatten, kalten Boden. Ihre Gedanken flogen frei umher, sie konnte sich nicht konzentrieren
Die Zeit schien zu verfliegen. Es klingelte zum letzten Mal, die Schüler packten ihre Sachen ein und verließen, teils fluchtartig, teils gemächlich schlendernd, das Klassenzimmer. Es stand endlich das Wochenende vor der Tür, doch sie war die letzte, die das Zimmer verließ. Im bereits leeren Gang rannten vereinzelt Schüler an ihr vorbei, Verspätete, die den Bus noch erwischen wollten. Eigentlich sollte sie ja mitrennen, doch wie fast jeden Tag machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Hause.
Sie ging den schattigen Weg durch den Wald entlang. Die ruhige Atmosphäre und der Duft von Erde beruhigten sie langsam, ihre Gedanken sammelten sich an einem Punkt und kamen zur Ruhe.
Sie durchquerte den Wald um zu dem abseits gelegenen Friedhof zu gelangen. Es war kein großer Ort der Ruhe, nur ein Dorffriedhof. Durch einen Holzzaun vom Wald abgetrennt, standen auch auf ihm einige große Tannen. An den wenigen, mit Gras bewachsenen Wegen standen schlichte Grabsteine, manche unter den hohen und ausladenden Bäumen, andere mitten auf der hellgrünen Frühlingswiese. Sie passten nicht in diese lebendige Jahreszeit, wirkten wie störende Mahnmale der allumfassenden Endlichkeit.

Sie betrat das dem Tode geweihte Viereck, ging den mittigen Weg entlang und strich vorsichtig über die Grabsteine. An diesem Ort war sie fast immer nach der Schule zu finden.
Auf ihrem Stammplatz, unter der höchsten Tanne neben dem Grabstein mit den gemeißelten kalten Rosen, zog sie einen Block und einen Stift hervor und begann zu schreiben.
Gedichte und kurze Texte zu verfassen war ihr einziges Hobby; eigentlich war es noch nicht mal das: eher ein Zeitvertreib, eine Hilfe im Kampf gegen die Einsamkeit.
Die rote Tinte hob sich deutlich vom karierten Papier ab.
Nach einiger Zeit legte sie den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Tränenspuren glitzerten auf ihrem Gesicht.
Wie hasste sie es, die Schmerzen in ihrem Innern, die Sehnsucht, die sie langsam auffraß. Wieder war es ein Gedicht für ihn, wieder waren an einigen Stellen die Wörter nicht mehr lesbar, dafür aber waren aber die Spuren ihrer Gefühle umso deutlicher: verwischte Stellen, Tropfspuren ihrer Tränen. Aber sie lächelte: bald würden sie sich wieder sehen, in die Arme schließen können. Sie würde ihn wieder sehen, mit ihm zusammenleben können. Für immer. Wie schön es doch klang: Für immer. Sie konnte es kaum glauben, dabei war es doch ihre Idee, das Treffen heute Abend, im Licht des Vollmonds. Genau ein Jahr nach seinem Abschied sollte es soweit sein, der Gedanke an die erste Umarmung, der erste Kuss nach dieser Zeit brannte auf ihrer Seele, machte sie verrückt?nur noch wenige Stunden sollte sie warten müssen.

Sie beeilte sich nach Hause zu kommen. Es war bereits kurz nach sieben als sie die verlassene Wohnung betrat, ihre Eltern waren noch in der Firma, wie immer, und eigentlich war es ihr recht. Das Familienleben war in letzter Zeit nicht gerade problemlos, die Eltern stritten sich ständig und ließen ihren Frust und ihren Ärger an ihrem Kind aus.
Schnell hatte sie die üblichen Sachen für den, heute kurzen, Diskobesuch zusammengesucht: die Zigaretten, das kleine Taschenmesser, ein Feuerzeug und ihr Handy. Dazu packte sie noch den Umschlag mit ihren ganzen Texten und Briefen, die für ihn bestimmt waren, denn vor dem Treffen am späten Abend würde sie kaum Zeit finden, nochmals heimzukehren. Sie legte ihre Kleidung bereit und duschte kurz, trocknete die langen Haare, erneuerte das Make-up und zog sich an. Sie schnappte sich ihren Schlüssel und die kleine Handtasche und lief zur Bus-Haltestelle. Die kleine Disko war ungefähr 2 Kilometer entfernt. Normalerweise lief sie diese Strecke zu Fuß, doch da sie in Eile, war fuhr sie heute lieber mit dem Bus.

In der Disko traf sie ihre Klassenkameradinnen. Sie gehörte zwar nicht richtig zu dieser Gruppe, wurde aber bereitwillig akzeptiert.
Doch heute Abend schien sie verändert, sie redete erst mit den Mädchen, die sie am liebsten mochte. Dann stand sie mit der ganzen Gruppe an einem der Stehtische, vor ihr ein Getränk und vertiefte sich in Gespräche über teilweise belanglose Dinge, über ihre Lehrer und die Schule. Sie lächelte offen und wirkte vollkommen anders, viel freundlicher und sympathischer als sonst.
Mehrmals wurde sie nach einem Tanz gefragt, doch jedes Mal schüttelte sie den Kopf. Die anderen Mädchen hatten viele Fragen, viel zu erzählen. Sie hatten sie noch nie so erlebt: es war, als ob sie innerhalb weniger Minuten eine Drehung um 180 Grad gemacht hätte.
Sie erzählte auch von dem Treffen. Dass sie heute Abend endlich ihren Freund wieder sehen würde. Sie erzählte von ihrer bisherigen glücklichen Beziehung, die schon zwei Jahre alle Höhen und Tiefen überstanden hatte, bevor er weggehen musste. Sie erklärte, dass er ihre große und einzige Liebe sei. Und immerzu lächelte sie glücklich, strahlte von innen.
Die anderen Mädchen sahen zum ersten Mal Leben in ihren sonst so fast toten Augen, sie hörten sie laut lachen, sahen sie zum ersten Mal richtig lächeln. Sie wurde in die Gemeinschaft der Mädchen aufgenommen, und das spürte sie auch. Sie fühlte sich unwahrscheinlich wohl.
Dieser Abend sollte viel in ihrem Leben verändern: sie hatte Freunde, Menschen, die sie mochten und zu ihr standen.

Als sie um 23 Uhr die Disko verließ wünschten ihr alle Glück, umarmten sie und ließen ihrem Freund liebe Grüße ausrichten. Sie bedankte sich, verabschiedete sich bei allen und lief los. Sie musste sich beeilen, wieder war sie spät dran. In einer Stunde sollte es soweit sein und sie musste noch die zwei Kilometer bis zum Treffpunkt laufen. Die ganze Zeit dachte sie an die anderen Mädchen, wie freundlich und nett sie zu ihr waren. Der große Vollmond beleuchtete die leere Straße, in den Feldern rauschte der Wind und einige Eulen riefen in die Nacht, ansonsten war es vollkommen still.

Sie kam einige Minuten zu früh zum Treffpunkt, ging ein Stückchen weiter zu einem Rosenstrauch, schnitt eine jetzt geschlossene, weiße Rose ab und setzte sich unter die sich im Wind leicht biegende Tanne. Sie verteilte die hellen, weichen Blätter um sich herum und legte sich in das Gras. Mit geschlossenen Augen dachte sie an ihn, fühlte plötzlich seinen Blick auf ihrer Seele, ihrem Körper. Sie konnte seine Nähe spüren, ohne ihn zu sehen, nahm seine Liebe wahr, ohne ihn zu berühren.

Während der Erdboden dunkler wurde, las sie ihm alle Texte vor, verteilte das Papier im Gras.

Einige Stunde später wurde sie, umgeben von den im Licht der aufgehenden Sonne leuchtenden Rosenblättern und Schriftstücken, und mit einem friedlichen Lächeln im Gesicht, unter der Tanne auf dem Grab ihres Freundes gefunden.
Mit blutigen Schnittwunden an beiden Armen, neben den die weiße Haut verunstaltenden Narben, ist sie zu ihm gegangen.
 

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