... für Leser und Schreiber.  

Marys Augen

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©  Asasely   
   
Er nannte sie Mary. Warum so und nicht anders, wussten weder er noch sie. Mary war eine Katze, mehr noch, sie war eine sehr anständige Katze. Sie trank Milch, die jeden Morgen für sie bereitstand. Tagsüber schlief sie am Fenster auf einem Kissen aus dunkelgrünem Samt. Wenn er abends nach Hause kehrte und nach ihr rief, gehorchte sie: kam und sprang auf seine Knie. Er streichelte sie. Mary schnurrte und bog ihren Rücken. Sie kniff die Augen fast vollständig zusammen, und nur von Zeit zu Zeit schaute sie ihn sehnsüchtig durch ihre Augenschlitze an. Kurzum, sie tat alles, was man von einer guten Katze erwarten würde.

Er liebte sie und glaubte, Mary gehöre ihm. Dafür, dachte er, gäbe es genügend Gründe: Sie wohnte in seinem Haus, trank Milch, die er kaufte, außerdem schnurrte sie unter seinen Händen. „Meine Mary“, sagte er oft zu ihr. Sie schwieg. Sie sprach überhaupt nie mit ihm. Und jedes Mal, wenn die Nacht die müde, alte Stadt vor aller Augen verbarg, verließ Mary leise das muffige Haus durch das geöffnete Fenster. Denn sie war eine Katze und liebte die Nacht mehr als das grüne Kissen, die warme Milch und sogar mehr als die Zärtlichkeit seiner Hände. Sobald sie das Dach erreichte, schüttelte sie die Trägheit des Tages ab. Ihre Augen glühten wie Smaragde, als wären sie von der Dunkelheit geküsst. Der Nachtwind verzauberte ihren Körper in etwas Schwereloses. Der frische Duft der Freiheit kitzelte Marys Nase, sie nieste und fing an, sich wie ein junges Kätzchen zu benehmen: Sie sprang von Dach zu Dach, spielte mit den Blätter vom letzten Jahr, die sich zwischen den uralten Ziegeln versteckten, und jagte unbekümmert den Glühwürmchen hinterher.

Nach dem Spielen kletterte sie immer auf den höchsten Schornstein in der Stadt, machte es sich bequem und verbrachte dort den Rest der Nacht. Von hier aus konnte sie den endlos schwarzen Himmel betrachten, und die strahlenden Sterne schienen zum Greifen nah. Mary sprach zu ihnen. Sie glaubte, die Sterne lebten dort in der samtigen Schwärze und wüssten noch nicht, dass sie, Mary, hier ganz nah auf dem höchsten Schornstein sitzt und wartet. Aber eines Tages würde einer von ihnen Mary hören. Er würde hinunterkommen, um sie in den Himmel mitzunehmen. Dort würden sie zusammen leuchten und wie die anderen Sterne um die Wette rennen. Wenn sie müde würden, könnten sie sich in den Wolken rekeln. Sie würden silberhelle Himmelsmilch aus dem Mondsee trinken und stundenlange Gespräche führen.

Sobald der letzte Stern verschwunden war, kehrte Mary nach Hause zurück. Sie sprang durchs Fenster ins Zimmer und schlich zu ihrer Tasse warmer Milch. Danach schlief sie müde auf dem Samtkissen ein. Sie träumte von einem wunderschönen Leben als Stern.

Eines Morgens blieb die Milch unberührt. Mary kam weder am nächsten, noch am übernächsten Tag... Er wärmte noch jeden Morgen die Milch auf. Auch das Kissen liess er am Fenster liegen. Vergeblich rief er nach ihr. Mary verschwand für immer. Nur in manchen klaren Nächten konnte man am schwarzen Himmel zwei leuchtende Smaragde blitzen sehen.
 

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