... für Leser und Schreiber.  

Ein kurzer Weg ins Nichts

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©  Asasely   
   
Hör doch endlich auf zu weinen! Du benimmst dich wie ein Kind.
Ich bin kein Kind mehr. Ich bin erwachsen.
Wenn du erwachsen wärst, hättest du früher daran gedacht.
Heißt es: nichts?
Nichts.
Sie steckte die lästige sonnenhelle Locke wieder hinter ihr Ohr, drehte sich um und ging.
Weg.

Was sind das für Narben? Jeder muss lernen, sein Leben zu lieben. Du auch. Schau mir in die Augen, Kind. Du brauchst keine Angst zu haben.
Ich habe keine Angst.
Richtig so. Gleich schläfst du ein und wirst nichts spüren. Okay?
Okay.
Hörst du mich noch? Nichts?
Nichts.
Der Chirurge begann seine Arbeit.
Bald war das Ungeborene weg.

Sie wachte auf. Ihr Kopf war leer.
Wo willst du hin?
Ich fahre heim.
Aber du darfst nicht. Du solltest noch hier liegen bleiben. Hast du keine Schmerzen? Spürst du etwa nichts?
Nichts.
Leicht schwankend ging sie zur Glastür.
Weg.

Noch ein bisschen Tee?
Nein, es ist genug. Danke.
Was hast du bloß, mein Kind? Wie immer nichts?
Nichts.
Ich bin todmüde und gehe ins Bett. Gute Nacht, Mama.
Gerade wie ein Rohrstöckchen, lief sie weg.


Das in die weiße Badewanne fließende Wasser spritzte auf die blau gestrichene Wand. Trockene blaue Augen starrten auf ein Dutzend weiße Tabletten in der kleinen Hand.
Los, nimm sie. Sei nicht feige.
Ich habe Angst.
Du brauchst keine Angst zu haben. Es tut nicht weh. Was hält dich hier?
Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es etwas?
Nichts!
Ein braves Kind. Gleich bist du weit weg.


Ein Mal kam sie zu Bewusstsein. Sie sah und erkannte zwei Menschen, die sie liebte. Sie saßen einsam und verloren auf dem Bett gegenüber.
Ein quälende Gedanke zerschnitt wie ein Messer ihren erhitzten Kopf:
Warum bloß? Was kommt danach?
Nichts.
Im nächsten Moment verschwammen die Gesichter, verblassten die Erinnerungen und es begann die Musik. Nein, das war keine Musik. Irgendeine entsetzliche Stimme erdröhnte in ihren Ohren. Sie hörte Stöhnen, menschliches Geschrei, Geheule, die ganze Verzweiflung ergoss sich aus diesen Tönen. Schließlich, als der letzte Akkord wie ein Donner schlug, alles, was es Schreckliches im Weinen, Leidenvolles im Leiden und Schwermutiges in der Schwermut gibt – als es alles in einem Akkord zusammenfloss, konnte sie es nicht mehr erleiden. Sie schloss ihre Augen und flog für immer davon weg.

2003, August
 

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