... für Leser und Schreiber.  

Eine Zugfahrt

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©  Storyteller   
   
Fahles Sonnenlicht bricht durch die trübe Wolkendecke, fällt durch die schmalen Ritze, der hölzernen Wagonwand um sich auf meinen Wangen auszuruhn. Die Winzigkeit an Wärme, welche sie bringen, vermögen meinem Gesicht kein Lächeln zu entlocken, zu starkt lasten die Ereignisse der letzten Tage auf meinem Gemüt. Ich versuche das Wehklagen der anderen armen Seelen zu überhören, versuche dem Geruch von Urin und Kot irgenwie auszuweichen, aber ich scheitere bei jedem Versuch kläglich. Das Elend ist allgegenwertig, keine Spur von Menschlichkeit, wie Vieh zusammengefercht und verachtet von Menschen, die einst Freunde waren.

Felder und Wiesen ziehen an mir vorbei, so schnell und doch eine magische Ruhe ausstrahlend. Blätter färben sich gold und rotbraune Farben wechseln sich im munteren Spiel mit dem letzten Grün der Laubbäume. Der Herbst war schon immer etwas ganz besonderes für mich gewesen. Die Natur ist zu dieser Jahreszeit eine trauernde Schönheit, welche die Kraft besitzt Tränen zu nähren, Herzen zu öffnen, Seelen zu befreien und Träume zu fassen oder sie in Frage zu stellen.
Das Antlitz der Landschaft ändert sich wie so vieles in unserem Leben.
„Dürfen wir jetzt wieder nach Hause?“, fragte mich die kleine Rahel und alles was ich antworten konnte war: „Ich weiß es nicht..“
Noch vor ein paar Monaten, wäre meine Antwort optimistischer ausgefallen und jetzt, jetzt verliere selbst ich die Hoffnung, dass das alles nun noch ein gutes Ende nehmen wird.

Rahel ist tot. Sie lief die Böschung hinunter um ihren kleinen Lederball zu holen, der ihren Händen zuvor entglitten war.
Es bedarf nur der Aufmerksamkeit eines unerfahrenen, übereifrigen Aufsehers um ein Leben zu beenden.
Ihr Vater spricht seit diesem Vorfall kein Wort mehr, sein Blick ist der Welt entrückt, er ist nur noch ein Schatten seiner selbst, wie wir es all nach und nach zu werden scheinen.

„Arbeit macht frei“ sagen sie! Genau so frei wie dieser gelbe Stern den ich hier auf meiner Brust trage? Ich muss lachen bei diesem Gedanken und gleichzeitig bahnen sich salzige Tränen ihren Weg über meine Wangen. Wann werden wir da sein? Dort wo wir alle nie hin wollten!?
 

http://www.webstories.cc 18.05.2024 - 16:39:18