... für Leser und Schreiber.  

Der Junge und der Bettler

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© Hanja Dämon   
   
Unter all dem Tumult, der auf dem riesigen Hauptbahnhof herrscht, scheint niemand den kleinen Jungen zu bemerken, der schon seit geraumer Zeit in der großen Halle auf seinem Koffer sitzt und mit staunenden Augen das Treiben um sich herum betrachtet.

Von Zeit zu Zeit fällt sein Blick auf die Zeiger der Uhr, und obwohl er sie noch gar nicht lesen kann, ist ihm nicht entgangen, wie sich die Zeiger in regelmäßigen Abständen immer weiter bewegen, bis sie auf einmal im Kreis gegangen sind und ihre Reise wieder von Neuem beginnen. So zumindest empfindet es der kleine Junge, der nun am Ziel seiner Reise angekommen ist und dennoch warten muss, bis jemand ihn abholen kommt.

Der Gedanke, dass man ihn vergessen haben könnte, kommt ihm nicht. Ihm ist in seinem jungen Leben noch nichts widerfahren, was die Welt von einer anderen Seite als der guten gezeigt hätte. Er vertraut den Menschen, Vorurteile kennt er keine.
Er muss nur Geduld haben, das weiß er, bald wird ihn wer holen.

Er drückt seine Nase gegen die Scheibe der Glaswand und blickt auf den Bahnsteig hinaus. Züge fahren ein und aus, Menschen sagen sich Lebewohl oder umarmen einander vor lauter Wiedersehensfreude. Eine Zeitlang macht es ihm Spaß die Menschen zu beobachten, doch dann verspürt er ein Kribbeln in den Beinen, die er kurz mal vertreten muss. Er nimmt seinen Reisekoffer und bewegt sich in Richtung Ausgang.

Die großen Menschenmassen, die ihn einschließen, verwirren ihn, denn er kommt vom Land.
Natürlich ist er schon öfters in der Stadt gewesen, jedoch immer in Begleitung seiner Eltern. Jetzt ist er zum erstenmal richtig allein. Eigentlich soll er hier seine Großeltern treffen, nur wie kann er sie in diesem Gewimmel finden?

Vor dem Bahnhofsgebäude sitzt ein Mann in zerrissener Kleidung. Vor ihm steht ein Schild, welches das Kind nicht lesen kann, und ein kleines Schüsselchen mit ein wenig Geld.
„Auch er scheint zu warten“, denkt der Junge und geht zu dem Kerl der ausdruckslos zu ihm aufschaut.
„Auf wen warten Sie denn?“ fragt der Junge ihn höflich.

Der Mann zieht in Anbetracht der Frage eine Grimasse. Mit einer Handbewegung will er den Kleinen verscheuchen, doch der bleibt hartnäckig: „Ich warte nämlich hier auf meine Großeltern“, fährt er fort zu sprechen und hockt sich neben den Mann. Er erzählt ihm, woher er kommt, wie alt er ist und wie er heißt. Durch das teilnahmslose Gesicht des Mannes lässt er sich nicht beirren, er redet munter weiter, unter anderem teilt er ihm stolz mit, dass er gerade eben zum ersten Mal allein mit dem Zug gefahren ist.

Der Bettler gibt zwar vor, keine Notiz davon zu nehmen, was der Junge sagt, aber insgeheim lauscht er jedem Wort. Er ist froh, dass jemand mit ihm spricht. Doch plötzlich wird der Junge von zwei Armen hochgehoben, umarmt, auf die Wange geküsst und fortgetragen. Das Kind winkt dem Bettler nochmals zu, während ihm der Großvater eine kleine Strafpredigt hält dass man sich von solchen Leuten fernzuhalten habe.
 

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