... für Leser und Schreiber.  

Wie man ein Buch lesen kann

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© Rainer Pick   
   
Thomas
hatte sich daran gewöhnt, abends, nach der Rückkehr von der Arbeit, seine Jacke oder den Mantel
– je nach Jahreszeit – im Flur,
an der Garderobe aufzuhängen,
in die Küche zu gehen, dort den Wassertopf mit Wasser zu füllen, ihn auf den Herd zu setzen, die große Tasse – auch eines von den Erbstücken – mit einem Eß- Löffel gemahlenen Kaffees zu füllen und dann, bis das Wasser kochte, in das Zimmer zu gehen, von dem gerade die Rede war und wo die Bücher schon auf ihn warteten.
Ein Schritt an eine der Regalwände, ein Blick auf die Buchrücken, ein Griff hinein und Thomas hatte genau das Buch in der Hand, was ihn am meisten interessierte, jenes Buch, welches er bisher noch nicht gelesen hatte. Denn wenn er einmal mit dem Lesen begann, dann las er es vollständig durch.
Auf dem Weg zurück in die Küche, hatte die linke Hand einerseits das Buch gehalten, mit dem Daumen bereits bis zu Vorwort geblättert, vom linken Auge schon einmal etwas angelesen, mit dem rechten Auge den Weg kontrollierend, auch das inzwischen kochende Wasser, welches jetzt mit der rechten Hand in die bereit stehende Tasse auf das Kaffeepulver goß.
Das Buch noch immer in der linken Hand, die volle Tasse in der rechten Hand haltend , bereits mit fast beiden Augen gleichzeitig den Text im Buch suchend, lenkten jetzt die Beine auf dem Weg in das Wohnzimmer.
Dort angekommen, erfolgte nun schon automatisch die leichte Drehung nach links, der Po übernahm die Körperführung nach rückwärts, glitt dann hin zum Sessel, um sich auf dessen Sitzfläche behaglich und bequem zu etablieren.

Genau gegenüber dem Fernseher, der eingeschaltet lediglich die erforderlichen Hintergrundgeräusche lieferte, und neben dem Couchtisch, auf dem jetzt noch die volle Kaffeetasse durch die rechte Hand abgestellt werden musste, kam Thomas Körper ganzheitlich zur Ruhe.
Die rechte Hand hielt nun das Buch, während die linke stützend auf der Sessellehne dem Körper Halt und Gelegenheit gab, sich noch einmal zu organisieren. Ein wohliges Räkeln, bis hin zur äußerst bequemen Konstellation aller Körperelemente, für die fast absolute Ruhestellung.
Nur Augen und Gehirn hatten noch zu tun.
Das Umblättern der Seiten geschah mit eben so wenig Anstrengung, wie das Nippen an der Kaffeetasse, eben automatisch.
Für fast zwei Stunden jeden Tages stieg Thomas aus der Gegenwart aus und lebte in seiner Geschichte. Falls der Umfang der Geschichte es erforderlich machte, auch länger.
Durchlitt alle Leiden des Helden – egal ob Mann oder Frau –
erfand, erdachte und erlebte, was Menschen erfunden, erdacht, erlebt und aufgeschrieben hatte, die manchmal schon lange vor seiner Zeit lebten oder auf einer ganz anderen Stelle des Erdballs.
 

http://www.webstories.cc 03.05.2024 - 20:17:53