... für Leser und Schreiber.  

St. Maaaartin!

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©  Andre   
   
Erinnert ihr euch noch daran, wie ihr mit der Laterne um die Hausecke gezogen seid? Ich werde immer wieder daran erinnert, wenn ich im November auf der Straße unterwegs bin. Meist erkennt man solch einen Tross bereits auf eine Entfernung von 200 Metern: Eine beschwichtigende Stimme und drei nervtötend schreiende Kinder, da die Laterne wieder ausgeblasen wurde. Kleinere Bürger in diesem unseren Staate pflegen dann stets zu streiten:
„Maaama, der Lars hat auf meine Füße getreten...“ „Ja, aber das hat er sicher nicht absichtlich gemacht.“ „Maaama, wann gehen wir wieder nach Hause?“ Doch die kämpft gerade mit einem Streichholz. Es will und will nicht angehen. Verflixt aber auch. Das Einwegfeuerzeug war doch die bessere Waffe. Endlich brennt die Kerze von Lieschen.

Mann, warum habt ihr uns das angetan? Bei Regen und Sturm mussten wir uns zu St. Martins Zeiten unsinnig schwachsinnige Geschichten viel zu schlechter Darsteller angucken. Und im Rudel mit schaukelnden, schlimmstenfalls sogar s e l b s tgebastelten Laternendurch die Straßen latschen. Dabei hatten wir es doch alle mit den Ohren! Deshalb trugen wir auch schöne Pudelmützen, mit denen Großvater heutzutage die Falten seines Arsches beleidigen würde, setzte er sie als Gesäßwärmer ein. Dann lieber Ohrenschmerzen. Ja, was habt ihr euch dabei gedacht? „Du Horst, bleib ma solange hier sitzen und acht uffs Telefon, die Gerlinde ruft gleich an. Sag ihr, ich ruf sie in etwa zwei Stunden zurück. Ich muss nur ma mit den Kindern um die Ecke...“ Zweiiiiiii Stunden? Oh Mann, das war ja nicht zu ertragen.
Der Vater hörte sie gehen (abschwellendes Geschrei) und kommen (anschwellendes Geschrei). Das reichte für drei Flaschen Bier und vier Kurze.
Hattet ihr etwa ein schlechtes Gewissen, hattet ihr Angst, ihr hättet euch zu wenig um uns gekümmert? Dann hättet ihr euch wahrlich etwas originelleres einfallen lassen können. Was für ein Schwachsinn. Ich habe es nie gemocht, denn es gab immer Streit: Der eine hatte eine schönere Laterne, die andere war heller, die dritte war bunter... und schon war der Streit perfekt. Am schlimmsten jedoch waren die Laternentrips, wenn Mutti gaaanz zufällig auf eine Freundin traf, deren Sohn oder Tochter gaaanz zufällig in der gleichen Klasse wie man selbst war. Dann reichten Muttis kalkulierte zwei Stunden meistens nicht aus. Man musste nebeneinander hertrotten und die Alten ratschten was das Zeug hielt. Wer wieder mit wem in die Kiste gestiegen war. „Der Hubert is jetz mit der Helga zusammen. Ich hab se im Schlafzimmer gesehen...“ „Mama, redet ihr von Onkel Hubert?“ „SEIIIII STILLL! Das geht dich nichts an!“ Volltreffer. Natürlich war das Onkel Hubert. Der dumme Sack mit dem fetten Ranzen. Und dann Tante Helga??? Man setzte geistig die soeben benannten Personen zusammen. Auch wenn man noch nicht wusste, worum es eventuell ging, konnte man doch verstehen, dass diese Symbiose, bestehend aus einem runden stinkenden Bierfass mit faulen Zähnen und der immer gut aussehenden und strahlenden Tante Helga, nicht lange Bestand haben könnte. Die entscheidenden Sätze für ein objektiv gefasstes Urteil aber fehlten. Vorsorglich hatte nämlich Tante Rita, also die Freundin meiner Mutter, zu ihrem Sohn gesagt: „Andreas, erzähl doch mal dem Andre von deiner neuen Eisenbahn.“ Und wie auf Kommando legte der los. Und laberte und brabbelte, er hätte ja so eine schöne Lokomotive, und die würde ja auch dampfen. Ich hasste Eisenbahnen! Warum musste der davon erzählen?
In den Atempausen hörte ich von hinten: „Hubert,..., den Slip her...., Pille vergessen...“ Und dann schwallte der Idiot neben mir, dass es die zur Zeit beste Lokomotive von Märklin war und dass er bereits 40 Meter Schienen habe. Hinter mir ging die interessantere Geschichte ab. Und ich kriegte nichts mit. Endlich kamen wir vor unserem Haus an. Vati öffnete mit glasigen Augen die Glastür und hauchte mit seiner Fahne: „Ihr wart aber lange unterwegs.“
 

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