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Struppi – eine Parabel

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© Stefanie Seibel   
   
„Struppi! Struppi, komm zurück!“ rief sein Herr.
Doch Struppi hörte nicht.

Struppi war ein Rauhaardackel, der mit seinem Leben unzufrieden war.
Schon allein sein Name! Was hätte er darum gegeben, „Rex“ oder „Hector“ zu heißen, vielleicht auch „Cäsar“ oder „Napoleon“ – das waren erhabene, Respekt einflößende Namen.
Aber „Struppi“…!

Außerdem verlangte sein Herr immer so viel Gehorsam von ihm! Ständig verbot er ihm irgendetwas. Ob es die Pantoffeln waren, die er nicht zerkauen, oder der Briefträger, der er nicht zerfleischen durfte – alles, was Spaß machte, war verboten!

Und dann diese Spaziergänge! Struppi durfte zwar meist ohne Leine herumlaufen, aber wenn er dann seinem Herrn nicht sofort gehorchte, wurde der immer schon nach dem zehnten Rufen ungeduldig.

Also beschloss Struppi eines Tages, sein Leben selbst in die Pfote zu nehmen. Er würde sich einfach von den verstaubten, vorgestrigen Ansprüchen seines Herrn lösen.

Und – wer sagte denn überhaupt, dass sein Herr alles so wörtlich meinte, was er sagte? Es genügte doch sicher, wenn er das Rufen seines Herrn einfach still zur Kenntnis nahm und eine grundsätzliche innere Bereitschaft an den Tag legte, darauf zu reagieren. Die Reaktion an sich war schließlich nicht so entscheidend wie die innere Haltung, die ihr vorausging.
Denn sein Herr konnte doch eigentlich überhaupt nicht so autoritär und unsensibel sein, dass er ihm tatsächlich in sein Leben hineinreden wollte! Schließlich las man in den führenden modernen Hundebüchern, dass Hundebesitzer ihren Hund nicht in einem sklavischen Kadavergehorsam unterwerfen wollten, sondern sich ein echtes Gegenüber mit einem freien Willen wünschten.
Und Struppi beschloss, von nun an seinen freien Willen auch zu gebrauchen.

Schließlich stammte die Anordnung seines Herrn, keine Pantoffeln zu zerkauen, noch aus der Zeit, als sich nur wenige Menschen überhaupt Pantoffeln leisten konnten. Sicher war diese Anordnung heute nicht mehr so wörtlich zu verstehen.

Und in den Zeiten der Überbevölkerung und der zunehmenden Arbeitslosigkeit konnte es auch bestimmt nicht schaden, mal einen oder zwei Postboten zu zerfleischen!

Es wurde Struppi immer klarer: Sein Herr hatte einfach keine Ahnung von der wirklichen Welt. Er würde seinem Rufen einfach keine Beachtung mehr schenken. Schließlich hatte jeder Hund ein Recht darauf, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten.

Fröhlich und erleichtert über seine neuen Erkenntnisse lief Struppi – oder Rex, wie er sich von nun an nennen würde – auf die Straße zu – hinaus in die Freiheit.

„Struppi! Struppi, komm zurück, da kommt ein Auto!“ rief sein Herrchen.
Aber Struppi hörte nicht.
 

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