... für Leser und Schreiber.  

Die Wirklichkeit?

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© Thomas Redfrettchen   
   
Das rostige Eisentor wird aufgeschlossen. Der verbeulte Schlüssel passt und dreht sich mehrmals, bis ein Knacken etwas Roststaub aufwirbelt, kaum sichtbar. Die faltigen, vom Leben gezeichneten Hände des Mannes, staubig und dreckig von seiner Arbeit, schieben die Tür auf. Auf dem Boden schleift ein Metallstück, das Reiben von Eisen auf Stein hallt in seinen Ohren.
Er riecht den Moder des Ganges, des ganzen Gebäudes. Hier, nicht sehr tief unter der Erde, in einem abgeschlossenen Komplex ist die Luft natürlich verbraucht. Nicht nur verbraucht, regelrecht verpestet vom Gestank der Exkremente und der Menschen, die hier unten sind. Einige nur ein paar Tage, andere schon Jahrzehnte. Blut, Schweiß, Urin, Kot und Moos, alle diese Gerüche, eigentlich für sich aussagekräftig, vereinen sich mit der Luft hier unten.
Seine Füße treten auf hartem Boden, bestehend aus Steinen, Schimmel in den Fugen, oder ist es Moos? Die Feuchtigkeit ist sichtbar, spürbar in diesem Gemäuer. Links und rechts mehr Eisenstangen, alle gleich alt, alle gleich rostig. Dahinter vielleicht ein Mann, manchmal eine Frau, immer die gleiche Einrichtung, weniger oder mehr verdreckt. Zwischen den Räumen Wände aus Stein, wie der Boden, nass und glitschig. Im Gang, an den Wänden, dort wo nicht Metallstäbe, Fackeln, den Kopf mit Harz eingestrichene Holzscheite, angezündet. Sie verströmen einen zum Teil aromatischen, zum Teil beißenden Geruch. Die Flammen flackern in rot bis orange, züngeln an der Halterung der Fackeln, hinterlassen an den Wänden Rauchspuren.
Der Mann drängt ihn weiter, seine rauen Hände drücken sich grob auf seinem Hals. An den Gittern lungern Gestalten, bittend, flehend, grinsend, verachtend. Manche spucken auf die beiden, er riecht ihren fauligen Atem, sieht ihre fauligen Münder. Ihr filziges, verlaustes und stinkendes Haar hängt ihnen herunter, manche haben es sich grob scheren lassen, andere haben es sich ausgerissen. Viele Männer haben Narben, viele sind entsetzlich entstellt. Die Augen vermitteln Trauer, Leid, Wahnsinn? Glasig und stumm blicken einige ihn an, andere rütteln an den Gitterstäben mit unermüdlichem Elan.


Sie bleiben vor einem leeren Raum auf der rechten Seite stehen. Links sitzt eine Frau auf der vermoderten Holzbank. Mit lädiertem Gebiss lächelt sie ihm entgegen. Vor ihm ist eine Pfütze, ein Zusammenfluss von Tropfwasser aus der Decke und Urin. Stechend fährt ihm die Mischung in die Nase. Ein weiterer Tropfen fällt von einer undichten Stelle auf die Pfütze. Ein anderer Schlüssel wird von dem Mann in das Schloss der vergitterten Metalltür gesteckt, knirschend öffnet sie sich. Er wird durch die Pfütze hindurch in die Zelle gestoßen, gleitet aus und fällt auf den harten Steinboden. Die Tür wird wieder verschlossen und der Mann geht den Weg zurück, vorbei an den Gestalten durch den Mief.
Trunken tastet er sich die hintere Wand hoch, greift in die Fugen, rutscht immer wieder ab und kommt schließlich zum Stehen, hält sich an der Wand fest. Knapp über ihm eine kleine Öffnung, auch vergittert. Ein wohliger Geruch steigt ihm in die Nase. Der Geruch von Freiheit, frische Luft, obwohl es keine ist. Er dreht sich um und setzt sich auf die Holzbank, die nun sein Lager sein wird. Sie gibt leicht nach, wird bald brechen.

(Bild: "Die brennende Giraffe" von Dalí www.krref.krefeld.schulen.net)
 

http://www.webstories.cc 18.05.2024 - 19:42:12