... für Leser und Schreiber.  

Ein braunes Wintermärchen

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© Sebastian Fulland   
   
Magnus nahm einen letzten, erlösenden Zug von seiner Zigarette und machte sich wieder auf den Weg. Der Winter dauerte schon sehr lange an und war auch wesentlich härter als all die Jahre zuvor, es war immerhin mitte Mai. Und obwohl der Schnee die gesamte Landschaft in eine wunderschöne Idylle getaucht hatte, wollten die dreckigen, braunen Hausfassaden und die zerbrochenen Fensterscheiben nicht recht ins Bild passen.
Er wunderte sich, wie viele Menschen um diese Zeit noch unterwegs waren; alte, junge, greise, blonde, wirklich jeder schien an diesem einen Tag besonders stark beschäftigt zu sein.
"Was zur Hölle ist hier los?" fragte Magnus die junge Frau, die in ihrem braunen Baumwollmantel eingemummt und ohne jegliche Regung, den Blick starr auf den Boden gerichtet, an ihm vorbeihuschen wollte.
"Hast du es noch nicht gehört?" rief sie verwundert, mit voller Euphorie und breitem Lachen."Wir sind wieder vereint, der Süden gehört ab heute wieder zu uns und auch der Osten wird bald folgen. Er hat es tatsächlich geschafft! Unser Erlöser! Unser Retter! Unser Heiland! Diese Tugend, diese Kraft, diese Weisheit! Ich bin noch immer wie in Trance!"
"Er hat es also tatsächlich geschafft... ich weiß nicht, tun wir das richtige?" entgegnete er unsicher, den Blick nun ebenfalls auf den Boden richtend, die Arme vor der Brust verschränkt.
"Bist du verrückt?! Was für eine Frage! Als nächstes zweifelst du wahrscheinlich noch die Existenz Gottes an! Wenn er sagt, dass es richtig ist, dann ist es richtig. Er hat uns schon so viel Gutes gebracht; schau dich doch einfach mal um! Ist es nicht herrlich hier? Haben wir nicht zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf? Warum bist du so undankbar?"
"Ich weiß ja, ich weiß ja... aber dennoch... Wundert es dich nicht, dass immer mehr Menschen, Freunde und Nachbarn, Kollegen und Verwandte, einfach so verschwinden? Letzte Woche erst, Waschinewskis von nebenan, sehr tüchtige Leute, Hals über Kopf seien sie umgezogen. So hat man es uns jedenfalls gesagt. Aber..."
"Dann wird es wohl so sein! Ach, es wird so viel gelogen heutzutage, es ist unerträglich. Weisst du was dein Problem ist? Du bist zu pessimistisch, missmutig gar. Aber es gibt halt Menschen, die das Glas immer halb leer und nie halb voll sehen. Zum Glück gehört er zur letzteren Gruppe, anders wäre der Fortschritt ja gar nicht möglich. Immer diese unbelehrbaren..."
Und so verschwand die junge Frau wieder so schnell in der braun-grauen Menschenmasse, wie sie gekommen war, das Gesicht nun erneut ohne jegliche Emotion.
Magnus blieb allein zurück und fragte sich, ob er tatsächlich undankbar war; es hatte sich einiges verändert, keine Frage, aber dennoch... Die Zweifel im Gedächtnis schlurfte Magnus weiter die Strasse hinunter, sah in all die versteinerten Mienen seiner Mitmenschen, die, wenn sie seinen Blick bemerkten, ein unnatürlich gezwungenes Lächeln aufsetzten und ihn dabei mit leeren Augen ansahen um einen Meter weiter wieder in ihre emotionale Ausgangslage zurückzukehren.
Als er letztlich am Ende der Strasse an der Kirche angekommen war, bot sich ihm ein bizarres Schauspiel. Nahe des Kircheneingangs, unweit von dem verschmutzten Kruzifix, das schon seit einigen Wochen im Schneematsch lag und völlig verbogen und verrostet war, beobachtete Magnus zwei Hunde, die sich angeregt beschnupperten; der eine war ein schwarz-weiß gefleckter Mischlingswelpe, der andere eine braune, ausgewachsene Dogge. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, fiel die Dogge im Blutrausch über den jungen Welpen her, biss immer wieder zu und riss ihn nach und nach in Stücke; blutige Fleischbrocken flogen durch die Luft, klatschten an die Kirchenmauer und an das im Dreck liegende Kreuz. Die umstehenden Menschen applaudierten und jubelten, auch Magnus. Erst als die Dogge den Kopf des Mischlings verschlang, hörte das Getöse auf und alle gingen weiter ihres Weges, als sei nichts geschehen, ein schlechtes Gewissen und Selbstzweifel jedoch unverkennbar ins Gesicht geschrieben.
Auch Magnus hörte auf die Dogge anzufeuern; er hätte dem Welpen gerne geholfen, von dem nur noch blutige Fetzen, schwarzer Milch gleich, an der Schnauze der Dogge klebten. Doch wie hätte er das bewerkstelligen sollen? Er war zwar relativ stark gebaut und auch sehr groß, keine Frage, dennoch wäre er im Kampf vermutlich, wahrscheinlich, nein, sogar notgedrungen unterlegen gewesen.
Magnus betrat die Kirche und zündete eine Kerze an, bevor er sich auf eine der hinteren Holzbanken setzte. Er konnte den blutroten Abendhimmel durch eines der Kirchenfenster sehen. Magnus begann zu weinen, immer heftiger, immer leiser, bis seine Stimme völlig verstummte. Er schämte sich aufgrund seiner Schwäche, seiner Taten aber vor allem, und das war das schlimmste, aufgrund seines eigenen Namens.
 

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