... für Leser und Schreiber.  

Ananas und Umzugsfieber

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© Thomas Redfrettchen   
   
Silberne, glänzende Stücken schwimmen in der roten Schale. Wie kleine Brocken des Mondes gleiten sie von dem metallenen Löffel, mit dem ich in der Schale umherrühre. Jede Berührung des Randes erzeugt ein klingendes Geräusch, wenn ich stärker schlagen würde, könnte man ein Echo hören. Wäre bloß nicht diese Musik, die aus dem Fernseher neben der Schale dringt. Beide Gegenstände und dazu noch eine zehn Jahre alte Matratze, dessen Eisenfedern mich traktieren, wenn ich auf der Seite liege, liegen auf dem braunen, ebenfalls uralten Linoleumboden, unweit von der Zimmertür. Ich nehme einen leicht süßlichen, doch wie ich weiß ungesunden Geruch war, der von dem Lösungsmittel ausgeht, mit dem Reste der selbstklebenden Auslegware entfernt wurden. Im Schein des Fernsehers sieht man noch einige Krümel auf dem sonst blanken Boden.
Ich erinnere mich daran, wie ich vor dem Teppich saß und ihn mit einem Messer in transportablen Stücken schnitt. Ich erinnere mich an den Dreck, der sich in fast zehn Jahren angesammelt hatte und beim Ablösen des Teppichs deutlich zum Vorschein kam. Zuvor standen helle Holzschränke mit türkisen Streifen im Raum, links ein Schreibtisch mit zwei Vitrinen und rechts das Bett mit diversen Schränken davor, darüber und dahinter. Jetzt, wo das alles zusammen mit dem giftgrünen Sofa abtransportiert wurde, wirkt das Zimmer immer noch klein.
An den Wänden hängt seit fast zehn Jahren dieselbe Tapete, oben sind noch kleine Bärchen zu sehen. Man kann deutlich erkennen, wo Möbel standen und wo nicht. Brau-graue Flecken zieren die Wände. Nur das nötigste blieb im Zimmer stehen: Der Computer, ohne den ich selbst die letzten Tage vor dem Umzug nicht überleben könnte, der Fernseher, der mich neuerdings immer wieder an die Musikkanäle fesselt und vier Umzugskartons mit einigen Alltagsgegenständen darin. Und natürlich noch die Matratze samt Bettzeug, auf der ich gerade liege.
Von unseren letzten Vorräten habe ich mir eine kleine, unscheinbare Dose mit Ananasstückchen unter höchster technischer Anstrengung geöffnet. Ich musste überrascht feststellen, dass 340 Gramm Bruttogewicht eine ganze Schale füllen. Aber ich muss sie schließlich aufessen oder Ärger kassieren, weil ich den wertvollen Platz im Kühlschrank belege. Doch schon nach einigen Stücken wird mir schlecht. Zudem habe ich nun Fasern zwischen den Zähnen und keine Lust mir die Zähne zu putzen. Noch morgen werden sie mich an meinen Ausflug in die Küche des Dosenessens erinnern.
Müde blicke ich auf den Fernseher. Die Musik verschwimmt in meinen Ohren zu Gequake, als ob ich sie unter Wasser hören würde. Eine kleine Anzeige am unteren Bildschirmrand weist mich darauf hin, dass sich das Gerät in einer Minute von selbst ausschalten wird. Schade, denke ich mir, als es plötzlich Knackt und der zuvor von Bildern strahlende Apparat zu einem schwarzem Kasten wird.
Die Stücken in meiner Schale sind nun nicht mehr silbern. Draußen ist es düster, wahrscheinlich Neumond oder so etwas. Auf jeden Fall reflektieren die weißen Platten der Außenbeschichtung des Hochhauses gegenüber nicht viel Licht. Dies ist eine der letzten Nächte, in der ich versuchen könnte, sie zu zählen. Doch zunächst muss ich ein bisschen Ananas nachlegen. Auf der Dose stand „Leicht gesüßt“. Dem kann ich nichts entgegensetzten. Aber es weckt in mir die Vorstellung über den Weg der Südfrucht in meine Schale. Ich frage mich, wie man sie erntet, würde auch sofort in meinem Lexikon nachschauen, wenn es nicht schon irgendwo in einem Umzugskarton verschollen wäre.
Es ist nicht still. Wenn man bewusst weghört, nimmt man das Ticken der Uhr in meinem Zimmer um so mehr war. In manchen Nächten bin ich fast verrückt geworden durch das ewige „Klick“. In dem leeren Raum gibt es auch noch einen schönen Widerhall. Gegen diesen Psychoterror hilft nur Ablenkung, wieder durch Musik. Die Droge, die mich in den letzten Tagen davor bewahrt, lauthals loszuschreien und diesen Umzug zu verwünschen.
Es ist kein harter Bruch, das Schuljahr ist fast zu Ende und nach den wohl nicht so erholsamen Ferien beginnt die elfte Klasse. Hier in Mitte halten mich eigentlich nur meine Freunde. Im Süden Berlins erwartet mich eine eigene, neu eingerichtete Etage, eine ruhigere Wohnlage, ein besseres Gymnasium und vor allem genug Chancen für einen Neuanfang in diesem. Aber gerade vor diesem Neuanfang habe ich Angst. Im Allgemeinen ängstigt mich Veränderung. Alles hat an seinem Platz zu sein oder in seiner geordneten Bahn zu laufen.
Diese Fruchtstücken passen nicht ins Konzept, nicht zum allabendlichen Ablauf. Und so schmecken sie mir auch. Doch ich zwinge mich das letzte mit dem gesüßten Wasser hinunterzuspülen, bevor ich mich auf den Rücken drehe. Ohne hinzusehen betätige ich die Tasten des CD-Players, der dann in gewünschter Lautstärke meine beste und einzige CD abspielt. Jeden Beat kenne ich auswendig, kann sogar abmessen, wieviel Zeit seit dem Start der CD ungefähr vergangen ist.
In der richtigen Schlafposition und mit den richtigen wirren Gedanken sowie der Hoffnung auf ein schönes, weiteres Leben schlafe ich schließlich ein.
 

http://www.webstories.cc 09.05.2024 - 16:45:40