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Das Licht der Hajeps Band 1 Die Flucht - Kapitel 1

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©  doska   
   
„Blut, überall Blut!“ Margrit warf ihren Kopf zurück gegen die Metallwand, drehte ihn verzweifelt hin und her. Das, was sie da sah, war zu entsetzlich, zu furchtbar, um es wirklich begreifen zu können. Bis an die Wand der halbzerfallenen Kirche war der klebrig-rote Lebenssaft gespritzt. Zum Teil war er schon braun, an anderen Stellen noch feuerrot. Auf dem Boden hatte sich eine riesige Lache gebildet. Dunkel, fast schwarz war dort all das Blut – das Blut ihrer Freundin Marianna.
Etwa zweieinhalb Meter entfernt von dem nackten, aufgeschlitzten Körper auf dem Gang zwischen den Holzbänken lag zusammengekrümmt Armin, Mariannas große Liebe. Ihm war der Schädel aufgesägt worden.
Margrits Herz krampfte sich zusammen. Sie keuchte. Nicht einmal Kirchen scheuten diese Bestien! Zuerst hatte sie weglaufen mögen, so schrecklich war der Anblick gewesen. Nun aber sah sie in die weit aufgerissenen Augen Mariannas. Sie starrten sie an, als hätten sie stumm eine wichtige Nachricht weiterzugeben, nur ein einziges Wort: „Hoffnungslos!“
War jede Flucht wirklich sinnlos? Würden diese gefühllosen Wesen, die anscheinend nur lebten, wenn sie töteten, eines Tages auch sie - Margrit - mitsamt ihrer Familie bekommen und mit ihren Leben spielen?
Angstschweiß trat auf ihre Stirn. Vielleicht waren ja die Bes-tien noch in der Nähe? Da … Schritte! Und nun … Schatten!
„Die Hajeps!“ Dieses Wort entrang sich gellend ihren Lippen.
Margrits Kopf fuhr hoch, weg von der Metallwand des alten Zuges, an welcher sie im Schlaf gelehnt hatte.
„Nanu?“, vernahm sie Pauls vertraute Stimme.
Sie fühlte erst jetzt, dass er sie an ihrem linken Arm gepackt, ihren mageren Oberkörper nach vorn gezogen hatte.
Sie musste mit den Tränen kämpfen, keuchte, das Herz häm-merte bis hinauf zu ihren Ohren, doch ihr erster Blick galt Juliane, dem dreijährigen Mädchen auf ihrem Schoß. War die Kleine durch den Schrei und den furchtbaren Ruck, der durch ihren Körper gegangen war, etwa geweckt worden? Julchen brauchte doch so dringend Schlaf, denn seit Tagen waren sie schon auf der Flucht. Aber nein, welch eine Erleichterung, das Kind schlief noch und, sie sah prüfend zur Seite, Tobias, er war nur ein Jahr älter als seine Schwester, Gott sei Dank ebenfalls. Der Junge atmete gleichmäßig, behaglich an Margrits rechten Arm gekuschelt.
Ihr Blick flog nun zu den Fahrgästen. Hoffentlich hatte das Schreckenswort diese armen Leute nicht allzu sehr geschockt! Dicht gedrängt standen sie in dem engen Gang des kleinen Abteils, während der uralte Zug durch die graue Herbstlandschaft schunkelte. Sie starrten nur aus großen, traurigen Augen teil-nahmslos vor sich hin, schienen an Schreie ihrer Mitmenschen gewohnt zu sein.
Vorbei war die Zeit einer einst sehr hohen Kultur, in welcher man sorglos und kaum von Arbeit belastet leben konnte, denn die Hajeps hatten seit 2042 den Menschen alles zerstört. Inzwischen waren etwa 22 Jahre der Hölle vergangen. Es gab keine Lebensfreude mehr, es regierte nur noch die Angst und die Lebensbedingungen waren schrecklich. Überall stank es nach Lumpen und ungewaschenen Leibern. Jeder war auf der Flucht, hielt sich irgendwo fest, auch an der Hoffnung, ihnen doch noch entkommen zu können … den Hajeps!
Diese hatten die Einwohner Berlins aufgefordert, die Stadt zu verlassen, weil sie von ihnen besiedelt werden würde. Dazu hatten die Menschen eine Woche Zeit, danach würde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht werden, um neue hajeptische Gebäude zu errichten. Die Leute durften für ihre Flucht die verbliebenen Verkehrsmittel benutzen, denn alles, was den Hajeps gefährlich werden konnte, hatten sie ohnehin schon zerstört. Die meisten Menschen glaubten dieser Warnung und verließen die Stadt, so auch Margrit mit ihrer Familie.
„Schon wieder ein Albtraum?“, fragte Paul leise. Margrit war mit ihm nun schon seit über sechs Jahren fest verbandelt. Die Kriegswirren hatten sie zusammengeführt und fest zusammen geschweißt. Das Paar konnte sich ein Leben ohne einander gar nicht mehr vorstellen.
In großer Sorge hatte er seinen Platz außen auf der gegenüber-liegenden Bank verlassen. Es gab nur wenige der alten, mit Kunstleder überspannten Bänke in den einzelnen Abteilen. Paul hatte über Rucksäcke, Taschen und zusammengerollte Decken steigen müssen. Die Leute besaßen kaum etwas, was sie ihr eigen nennen konnten und hatten ihre gesamte Habe auf den Boden gelegt, da die Gepäcknetze zum Teil zerrissen waren.
Margrit nickte Paul stumm zu. Ein Kloß saß ihr immer noch im Hals. Sie schluckte, wischte sich die Tränen hinter ihrer dreckigen Brille weg und wagte ein kleines Lächeln.
„Wird schon noch!“, wisperte sie und zupfte sich den Kragen ihrer Jacke höher. Sie fröstelte.
Pauls wettergegerbtes Gesicht war faltig. Zwar war er erst achtundvierzig, aber die Strapazen des Krieges ließen ihn um einige Jahre älter erscheinen. Er schüttelte den Kopf. Die Worte seiner Lebensgefährtin trösteten ihn wenig.
„Du musst daran arbeiten, dieses Erlebnis endlich zu vergessen!“, meinte er besorgt. „Wir haben auf unserem Weg schon so viele zerfetzte Menschenleiber gesehen, da verkraften wir wohl auch noch diese, hm?“ Paul tätschelte ihr ein wenig unbeholfen die Wange. „Bleibe nur ganz ruhig und versuche einfach wieder zu schlafen, denn du weißt, welche Anstrengungen wir noch zu erwarten haben!”
„Und wenn ich nicht mehr schlafen kann?“ Margrits grau-blaue Augen im schmalen Gesicht wirkten unendlich müde.
„Du meine Güte, das musst du ganz einfach“, knurrte er, „wenn du vernünftig sein willst!“ Er manövrierte sich schwan-kend an den Gepäckstücken vorbei und ließ sich mit einem Seufzer wieder in die Bank fallen. Neben ihm saß ein hagerer Mann mit einer billigen Plastikbrille auf der spitzen Nase, der ängstlich seinen Rucksack auf dem Schoß behalten hatte. Obwohl die Mitreisenden gerne Pauls Platz eingenommen hätten, hatte es doch niemand von ihnen gewagt. Paul war zwar nicht sonderlich groß, aber recht kräftig gebaut.
„Wir werden Berge erklettern, Wälder durchstreifen, Äcker und Wiesen überqueren“, erklärte Paul weiter und es störte ihn nicht, dass man ihm dabei zuhören konnte. „Wie willst du das überstehen? Möchtest du dabei krank werden?“
„Will ich natürlich nicht!“ Margrit blickte durch das trübe Fenster, schob sich mit der freien Hand eine ihrer langen- schon ergrauten - Haarsträhnen aus dem Gesicht. In den Ohrläppchen blitzten je ein silberner Stern - der letzte und einzige Schmuck, den sie noch besaß. Eine trostlose Landschaft zog dort draußen vorbei. Seit Tagen hatte es nichts als geregnet und die Wiesen waren matschig. Das Dämmerlicht machte Margrit schon wieder ganz schläfrig.
„Na also!“ Paul schmunzelte erleichtert, als er sie mit kleinen Augen blinzeln sah. „Kuschele dich schön zurecht und penn!“
Da musste sie nun doch lachen. „Du bist gut, mit einem Kind auf dem Schoß und dem anderen am Arm, wie soll ich da großartig kuscheln?“
„Beschwere dich nicht“, schimpfte er unlustig. „Das ist alleine deine Angelegenheit! Du wolltest ja diese wildfremden Bälger unbedingt haben!“
„Bälger?“, wiederholte sie leise und wieder huschte ein Tränenschleier über ihre Augen.
„Ja, Margrit, ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich kein großartiger Kinderfreund bin.“ Paul rieb seinen struppigen Bart. „Darum hat es mich auch nie sonderlich gestört, dass du keine gebären konntest! Aber du, was machst du plötzlich? Entgegen unserer Abmachung nimmst du dich einfach dieser Geschwister an. Ich habe protestiert, ich habe geschimpft … nichts hat genutzt!“ Er wedelte hilflos mit den breiten Händen. „Du musstest sie ja unbedingt mitnehmen, nur weil sie uns zufällig begegnet sind und …“
„Psst, nicht so laut, nachher wachen sie noch auf!“, flüsterte sie aufgeregt. „Zerstöre ihnen nicht diesen Traum, denn sie halten mich inzwischen schon für ihre leibliche Mutter …“
„... und merken nicht wie alt du bist!“, fiel er ihr grinsend ins Wort. „Du könntest ihre Großmutter sein!“
„Na, soo alt bin ich doch gar nicht - fünfundvierzig ist kein Alter!“
„Oh doch, oh doch!“ Er lachte sarkastisch und zeigte dabei ein paar große Zahnlücken, denn man kümmerte sich nicht mehr um den Zahnerhalt.
„Paul, wie oft willst du mir das noch auftischen?“ Sie schob trotzig ihr spitzes Kinn vor. „Ich liebe diese Kinder. Sie sind mir ans Herz gewachsen und haben niemand anderen auf der Welt. Da ist es ganz egal wie alt man ist. Außerdem ist es schon ein ganzes Jahr her, seit uns diese Kinderbande begegnet ist …“
„… die uns bestehlen wollte!“, vollendete er wütend ihren Satz.
„Na schön, sie wollten deine Uhr klauen, aber …“
„Da gibt’s kein aber, Margrit! So, wie diese Kinder aufgewachsen sind, werden sie nie lernen, vernünftige Menschen zu werden!“ Er strich sich über seine Halbglatze. „Du bildest dir wohl ein, alles hinkriegen zu können, nur weil du früher Psychotherapeutin gewesen bist. Dabei ist es dir bis heute noch nicht geglückt, dem Bengel wenigstens seine ordinäre Sprechweise abzugewöhnen!“
„Aber Julchen gefällt dir doch, und an Tobias wirst du dich auch noch gewöhnen!“
„Julchen ist schnippisch! Ich hatte ein Jahr Zeit und werde mich weder an sie noch an Tobias gewöhnen können, meine liebe Margrit! So einfach ist das!“
„Das ist zwar gar nicht einfach, aber das ewige Gemeckere über die Kinder bin ich ja von dir gewohnt!“, erklärte sie resignierend.
Paul schüttelte verärgert den Kopf, dann beruhigte er sich und wollte gerade eindruseln, als der Zug stoppte. Die altertümliche Tür des Abteils wurde geöffnet. Sie quietschte entsetzlich. Sechs, sieben Leute stiegen aus, in der Hoffnung, dort draußen doch noch irgendwo ein gutes Versteck vor den Hajeps zu finden. Sie schoben sich mitsamt Gepäck durch die wartende Menge.
Der Bahnhof war eigentlich eine Ruine. Nichts wurde mehr repariert und wenn, dann nur notdürftig. Die Menschen hatten einfach aufgegeben.
Im Inneren des Zuges war es bald noch enger als vordem. Der Zug fuhr mit einem Ruck an, bewegte sich schaukelnd an Mauerresten und dachlosen Gebäuden vorbei.
Margrits Blick huschte suchend über die neu hinzu Gekommenen. „Paul“, wisperte sie, „jetzt muss ich immerzu an Muttsch denken! Ach, könnte sie doch unter diesen Leuten sein!”
„Muttsch!”, äffte Paul sie nach und sein Bein zuckte nervös. „Wie sich das schon anhört! Na, ich werde sie einfach weiter Elfriede nennen.“
„Sie ist ja auch nicht deine Mutter!“
„Stimmt“, meinte er grinsend. „Elfriede wird inzwischen schon eine sichere Unterkunft gefunden haben und gar nicht daran denken, sich an unserem verabredeten Ort zu zeigen. Wie sollte sie da auch hinkommen und wie sollte sie erfahren haben, dass wir gerade jetzt unterwegs sind? “
„Paul, die alte Morsetechnik funktioniert noch und morsen mit Blinklicht ebenfalls. Unsere Organisation hat versprochen, wenn ...“
„Pssst“, gemahnte er sie und schaute sich ängstlich um, „du musst hier nicht alles gleich breittreten.“
„Ach Paul, manchmal nervt mich deine Geheimnistuerei! Es ist doch schon ein halbes Jahr her, dass ich Muttsch gesehen habe. Seitdem habe ich nichts von ihr gehört. Klar, dass ich in Sorge bin. Ich hoffe, man hat inzwischen ihre Adresse herausgefunden.“ Margrit schob sich die Brille auf ihrer Nase zurecht. „Wirklich, das ist schon alles sehr beängstigend. So langsam frage ich mich ...”
„Leider fragst du nicht nur dich!“, unterbrach er sie gereizt. „Das ist ja das Schlimme!”
„Aber womöglich haben die Hajeps damals nicht nur Marianna und Armin geschnappt, sondern auch sie ...”
„… und ihren treuen, alten Munk!”, feixte Paul. „Den solltest du dabei nicht vergessen!”
„Ja, du Witzbold, vielleicht auch den!”
„Aber Margrit, was sollten Außerirdische denn schon mit so einem alten Kater anfangen wollen, hm?“
„Weiß ich es?”
„He, genauso wenig wird die Hajeps eine alte Dame von 82 Jahren interessiert haben, das glaube mir mal!”
„Paul, woher willst du das so genau wissen?”
Er schraubte die haselnussbraunen Augen nach oben. „Liebe Margrit, das weißt du so gut wie ich. Hajeps suchen sich meist Kinder oder Erwachsene mit besonderem kindhaftem Gemüt für ihre verrückten Experimente aus.“ Er grinste bei diesem Gedanken plötzlich merkwürdig. „He, da fällt mir was ein, es ist zwar verrückt, aber das könnte doch stimmen, wer weiß?“
„Was?“
„Na, womöglich sind deine adoptierten Kinder in Wahrheit gar keine, sondern nur in Kinder verwandelte Hajeps. Es sind außerirdische Spione, die uns später umbringen werden und ...“
„Pfui! Jetzt wirst du aber gemein, Paul! Gut, dass die Kleinen dich nicht gehört haben.“ Sie schaute besorgt von einem Kind zum anderen.
Er kicherte und die Fahrgäste, die dabei zugehört hatten grinsten nun auch. „Wieso? Das ist doch gar nicht so abwegig. Schon oft genug haben uns Hajeps mit allem möglichen gefoppt …“
„Nun hörst du aber auf! Außerdem, Armin und Marianna waren weder besonders jung noch gebärdeten sie sich irgendwie kindisch.”
„Dann haben sie die Beiden halt ohne irgendeinen besonderen Grund ermordet. Weiß ich, was Hajeps so denken! Margrit, ich habe im Gegensatz zu dir schon lange aufgehört, mich zu diesem Thema auch nur irgendetwas zu fragen. Ich versuche zu überleben, das ist alles! Im Übrigen hattest du damals keine weitere Leiche in der Kapelle gefunden ...”
„Ich hatte keine Zeit, mich genauer umzusehen!” Eine Träne lief ihr nun die Wange hinab. „Und das weißt du ganz genau!”
„Ach, jetzt sind wir gleich am Weinen! In letzter Zeit eigentlich immer! Schon gut, lieber Himmel!“ Er seufzte. „Ich kann doch für den Tod deiner Freunde nicht! Also wirklich, gerade du mit deinem Studium solltest doch eigentlich wissen, was du am besten gegen ein Schockerlebnis tun musst, dann wirst du auch nicht mehr so viel Schlechtes träumen.”
Wieder entdeckte Margrit hier und da ein Grinsen unter den Fahrgästen. Sie lehnte den Kopf zurück, dann atmete sie tief durch.
„Paul, das sagt sich so einfach ... aber du hast Recht!“
„Also ehrlich”, er kicherte ein bisschen verlegen. „Wann habe ich das mal nicht?”
„Stimmt! Ich werde mich bessern … aber die Beiden hatten ein solches Ende wirklich nicht verdient, gerade die nicht! Huch?”
„Wieso huch?“, schreckte er hoch.
„Na, es kribbelt plötzlich so komisch im Handgelenk!” Marg-rit bewegte vorsichtig ihren Arm, an welchem Tobias lehnte. „Bis hinauf zu den Fingern! Ach, wenn nur alles so gut bei mir einschlafen würde!”
Leider wurde durch diese, wenn auch sachte Bewegung nicht nur Tobias sondern auch sein Schwesterchen geweckt. Beide begannen sich zu rekeln und der Kleine gähnte.
„T’schuldigung, Tobias“, keuchte Margrit betroffen, „aber ich musste jetzt einfach dein Kissen ausschütteln!“ Margrit schlenkerte den Arm hin und her.
„Daaas macht nichts, Mamms!“, krächzte das Kerlchen. „Es war wieso zu dünne!“
„Das heißt sowieso, Tobias!“ Sie strich ihm zärtlich über das dunkelbraune Struwwelhaar, das ihm ziemlich wild vom Kopfe abstand. Der Junge war zwar größer als seine Schwester, doch dafür schlanker. Julchen sah immer ein wenig rundlicher aus, vor allem im Gesicht, obwohl eigentlich beide Kinder unternährt waren.
„Willst du damit etwa andeuten, dass dieses hervorragende Kissen nicht bequem genug war?“, fragte Margrit
Tobias krauste die sommersprossige Nase und seine wasser-blauen Augen strahlten. „Es kann eben nich jeder solche guten Kissen haben wie ich!“ Er spannte den Arm an, sodass sich am Oberarm mühsam ein paar schwache Wölbungen in seinem Hemd zeigten. „Naaa - ah? Was sagst du dazu, Mamms, daas sind saugute Muckis, stümms?“, keuchte das Bürschchen mit knallrotem Kopf.
„Alle Achtung!“, wisperte Margrit und machte eine ehr-furchtsvolle Miene.
„Und hier“, er krempelte die Hosenbeine seiner Pluderhosen hoch, „sind auch welche!“
„Ach, lass nur gut sein, Tobi!“, murmelte sie, dabei einen prüfenden Blick auf die dickliche Frau werfend, welche neben ihnen in der Bank saß und die sich anscheinend gestört fühlte.
„Ich hab auch Muckis!“, meldete sich Julchen. Im Gegensatz zu Tobias hatte sie samtbraune Augen und hätte eigentlich auch ansonsten gut als Pauls Kind durchgehen können.
„Du bist ein Mädchen!“, mischte sich Paul ein.
Julchen schaute an Paul vorbei als ob er gar nicht vorhanden wäre. „Ich bin ein Mädchen und hab trotzdem Muckis! Viel mehr als Tobias, so!”
„Haste nich!“, fauchte Tobias.
„Hab ich doch!”
„Mädchen sind dafür hübscher!”, versuchte Paul einzulenken.
Niemand schien ihn zu hören. Die Kinder schnitten Paul deutlich, da ihnen seine lautstarken Proteste, dass er sie nicht haben wollte, nicht entgangen waren.
„Du liebe Scheiße!“, ächzte Tobias plötzlich.
„Tobias!“, gemahnte ihn Margrit. „So etwas wolltest du doch nicht mehr sagen!“
„Aber ich hab ihn verloren!“, protestierte er.
„Wen? Etwa einen deiner Muckis?“, feixte Paul.
Doch der Kleine meinte es ernst. Er war käseweiß geworden. Wie ein Wilder kramte er in sämtlichen Taschen seiner zerfledderten Kleidung. Er schien nach irgendetwas äußerst Wichtigem zu suchen. Er war dabei so hektisch, dass er mit dem Ellenbogen abwechselnd gegen die Hüften der dicken Frau oder gegen die Tasche, in der eine lebende Ente saß, stieß. Die Ente fauchte empört, die Frau bekam einen roten Kopf und Paul kochte innerlich. Traumatisierte Kinder hin oder her – sollte er deswegen vielleicht selbst noch eine Macke bekommen? Wie der Bengel sich wieder aufführte! Margrit ließ Tobias zu viele Freiheiten.
Der Kleine war nun vollends aufgesprungen, weil er hoffte, dadurch tiefer in seine Hosentaschen hineingreifen zu können.
Die Leute sahen Tobias zu, denn sie hatten ja sonst nichts zu tun, und Paul bekam Schweißausbrüche.
„Wen hast du denn verloren?“, fragte Julchen, sich dabei das blonde, verfilzte Haar zausend, denn seit die Hajeps auch die Kanalisationen und Wasserwerke beschädigt hatten, stand es mit der Hygiene nicht gerade zum Besten.
„Na, wen wird Tobias wohl suchen, Julchen, naaa?“ Paul war es nämlich eingefallen und deshalb lehnte er sich seufzend in die Bank zurück.
Da Julchen nichts von sich gab und nur nach wie vor erstaunt dreinschaute, half er ihr etwas.
„Sicher seinen heißgeliebten ‚Putti‘!“
„Aber Paul“, kicherte Margrit, „dieser Hartgummiball heißt nicht ‚Putti‘, sondern ‚Knuddi‘!“
„Ist mir doch Wurst!”, knurrte Paul eingeschnappt.
„Ich kann ihn nicht finden, ich kann ihn nicht …!“, kreischte Tobias jetzt mit hochrotem Kopf.
Oh Gott, wie peinlich! Paul schaute zur Nervenberuhigung wieder mal aus dem Fenster. Die alte Lok fuhr noch mit Diesel und so zuckelten Wiesen und Wälder ziemlich gemütlich am kleinen Abteil vorbei. Paul runzelte die Stirn. Auch die Fabriken waren von den Hajeps dem Erdboden gleich gemacht worden. Es gab kaum noch Busse, geschweige denn Autos. Möglichkeiten zu tanken existierten so gut wie gar nicht. Wer von all diesen Menschen hier hätte sich je träumen lassen, eines Tages mit solch einem museumsreifen ´Ding´ durch die Gegend kutschieren zu müssen.

Fortsetzung folgt:
 

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