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Die Geister, die ich rief.....

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©  Shannon O'Hara   
   
Die Geister, die ich rief…


Was ist denn heute los? So viele Anfragen hatte ich ja noch nie!
Alle kommen sie von der Erde. Gibt es Krieg dort, oder eine Katastrophe?
Dieser eine Ruf scheint der eiligste, drängendste.
Ich teleportiere gedankenschnell, gelange zu einem verschütteten Mann im Zentrum Manhattans.
Ich stoppe nicht, um mir das Ausmaß des Schreckens anzusehen. Zu schmerzhaft spüre ich das Sehnen des Einen.
„Oh Gott, steh` mir bei!“
Schwere Mauerreste liegen auf seinem Körper, die Atemluft ist staubdurchwirkt.
Vorsichtig tauche ich in ihn ein. Seine Lebensflamme ist fast erloschen, erfährt ein Aufbäumen, als ich eindringe.
„Danke, dass du gekommen bist.“
Ein tiefer Seufzer entflieht seiner Brust.
„Ich kann dich spüren. Die Kälte entweicht.“
Der Körper zerschunden, die Organe verletzt, schreit die Seele nach Erlösung.
Schweres, kurzatmiges Husten.
„Sie werden es nicht mehr schaffen. ICH werde es nicht schaffen!“
Die Resignation zieht ihn in dunkle Sümpfe. Ich kann ihm durch meine Anwesenheit nur Halt geben.
„Aber ich bin nicht allein.“
Da ist etwas Mut. Schaffe ich es, diesen zu stärken?
„Halte mich, führe mich.“
Da ist etwas Hoffnung. Ich freue mich für ihn; er kann den Tod annehmen.
„Mein Leben war so kurz, reichte aber aus.“
Ich sehe Bilder, seine Erinnerungen: ein kleines Haus, Familie, Lachen und Weinen. Seine Arbeit, Freunde, Liebe und Streit. Ein schöner Urlaub, Feste feiern und Sorgen.
Ein erneuter Hustenanfall, schon geschwächter, unterbricht die Gedankenflut.
‚Fehler begangen, die ich zutiefst bereue. Entschuldigungen fielen nicht leicht, wollte wieder in den Spiegel sehen können.’
Er spricht nicht mehr, denkt seine Worte.
‚Was wird aus der Familie?’
Sorgen und Traurigkeit.
‚Ich bleibe bei dir,’ rufe ich ihm im Inneren zu.
Streichle sanft die Seele.
‚Lass´ mich nicht allein! Ich fürchte mich vor dem Unbekannten!’
Schwacher Atem, ein einzelnes Hüsteln, Atempausen.
Bedecke die Seele, Wärme spendend. Die Flamme flackert – und verlischt.
‚Du Geist, den ich rief, begleite mich, führe mich an die Pforte.’
‚Ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst. Bis zur Pforte und auch darüber hinaus.’


Shannon 0`Hara
 

http://www.webstories.cc 15.05.2024 - 05:57:02