... für Leser und Schreiber.  

Eye - Prolog

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© Christian Mayr   
   
Nacht. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu und ein Schleier der Dunkelheit breitete sich über Tr'Eah aus. Viele Bürger des Kontinents hatten sich bereits zur Ruhe begeben und suchten Erholung von der schweren Arbeit, die sie des Tages zu verrichten hatten. Nur wenige trotzten dem Schlaf. Eine dieser ruhelosen Personen war der alternde Mönch Baratus, der sich als einziger in seinem Kloster noch nicht zur Ruhe begeben hatte und in seinem Kämmerchen unentwegt seine Arbeit fortführte. Doch die Mühe seiner schon Stunden andauernde Arbeit machte sich allmählich bemerkbar und entlockte seinem Mundwinkel ein Gähnen. Danach blickte er wieder auf seine Aufzeichnungen herab, warf prüfende Blicke in das dunkelbraune Buch vor ihm, hielt seine Feder kurzzeitig in sein Tintenfass und schrieb weiter. Eine Kerze, die sich in der Mitte seines Arbeitstisches aus Marmor befand, spendete ihm Helligkeit, um seinen schwachen Augen das Lesen seiner geschriebenen Worte zu ermöglichen. Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem Rücken.
Baratus erhob sich von seinem Holzstuhl und blickte für einige Sekundenbruchteile teilnahmslos, fast verzweifelt in den Raum. Seine Knochen waren schon alt geworden und seine Wirbelsäule schmerzte. Er streckte seinen Körper, um neue Energie zu tanken, um seine Arbeit fortführen zu können. Der alternde Mönch strich sich mit seinen Händen durch sein mittlerweile grau gewordenes glattes Haar und die Lippen in seinem vom Alter gezeichneten Gesicht stießen einen lauten Seufzer hervor. Die Nacht sollte noch einen langen Zeitraum für ihn einvernehmen. Ihm stand noch viel Arbeit bevor. Die Schmerzen, die er zuvor noch verspürt hatte, klangen langsam wieder ab und er setzte sich wieder auf seinen kleinen Holzstuhl.
Plötzlich drang ein Windstoß vom vor ihm liegenden Fenster in den Raum. Der Mönch blickte nachdenklich durch das einzige Fenster in seiner Kammer in die freie Natur. Er sah direkt über den Wäldern von Blythe schwarze Wolken aufkommen. Ein Sturm kündigte sich an. Die Salzgeruch verbreitenden Luftströme, die in sein Zimmer drangen, schienen ihn abzulenken und er verschloss das Fenster. Doch die Kerze, die den Raum bis dahin mit wärmendem Licht versorgte, war durch den Windstoß erloschen. Nur die durch die Holzlöcher des verschlossenen Fensters dringenden Lichtstrahlen der Abendröte konnten den Raum vor absoluter Dunkelheit bewahren.
Seine von Altersflecken übersäte rechte Hand streckte sich nach der erloschenen Kerze, die unmittelbar auf dem Marmortisch vor ihm stand. Unsicher und zitternd umfasste er diese. Langsam setzte Baratus seinen alten Körper in Bewegung und humpelte zu einer Fackel, die neben dem Eingang des Raumes hing. Auf seinem Weg blickte er demütig auf den Marmorboden seiner Kammer. Jeder Schritt schmerzte. Sein rechter Fuß war von Narben übersät, die von seinem roten Umhang geschickt verdeckt wurden. Die wenigen Meter, die er an Distanz zurückzulegen hatte, verlangten ihm viel Energie ab. Das Alter hatte seinen Tribut bezahlt. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Der Greis stützte seinen schwachen Körper an der hölzernen und aufgrund deren Alters schon leicht modrigen Eingangstür ab. Zitternd hielt er die Kerze in die nahe liegende Fackel. Danach begann er mit der nun entzündeten Kerze an seinem Arbeitsplatz zurückzuhumpeln. Schweiß rann von seiner runzeligen, weißen Stirn. Er hatte in letzter Zeit nicht viel Sonnenlicht gesehen. Seine Arbeit war zu wichtig und entscheidend für die Zukunft. Auf halbem Weg hielt er inne, um letzte Kräfte zu mobilisieren. Seine Gedanken riefen Erinnerungen an seine Frau und seinem Sohn hervor. Immer wieder quollen sie aus ihm hervor. Der Zorn, der durch diesen Gedanken hervorgerufen wurde, gab ihm Kraft seinen Weg fortzuführen.
Regentropfen schlugen gegen den Holzverschluss des Fensters. Ein Unwetter bildete sich. Von Minute zu Minute wurde das Geräusch der gegen den Holzverschlag schlagenden Regentropfen lauter und unerträglicher. Baratus schloss die Augen.
Eine junge Frau näherte sich ihm. Seine Frau. An ihrer linken Hand ein kleiner Junge. Sein Sohn. Beide liefen auf ihn zu. Er breitete seine Arme aus um sie umarmen zu können. Plötzlich hoben sich meterhohe Wellen zur Linken und Rechten seiner Frau auf und schlugen über ihren Kopf zusammen. Er sah seine Frau und seinen Sohn im plötzlich auftauchenden Wasser um ihr Leben kämpfen. Baratus schrie und rannte zu seiner Frau, um ihr zu Helfen. Doch er konnte sie nicht erreichen.
Baratus schreckte auf. Er öffnete seine Augen wieder, blickte auf den lärmenden Fensterverschlag und setzte sich auf seinen Holzstuhl. Mit zitternden Händen griff er nach seiner Schreibfeder und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Innerhalb einiger Minuten wurde seine Arbeitskammer von Blitzen für einen kurzen Augenblick auf Tageslicht erhellt. Doch Baratus ließ sich von den Regenfällen, Blitzen und Donnerschlägen nicht ablenken und fuhr seine immer größer werdende Müdigkeit ignorierend mit seiner Schreibarbeit fort. Das vor ihm liegende Buch, aus dem er nun schon seit Stunden Phrasen – kombiniert mit seinen Gedankengängen und Erfahrungen – entnommen und auf seine vor ihm liegende Schriftrolle übertragen hatte, hatte mittlerweile sein Ende erreicht.
Baratus blickte auf die seitliche Prägung dieses Schriftstückes, nickte und hielt es langsam unter die brennende Kerze. Die einzelnen Seiten begannen sich langsam zusammenzuziehen und verbrannten in einzelne Stücke. Das Papier verfärbte sich von gräulichen weiß über braun nach unlesbaren schwarz. Niemand sollte je wieder Informationen aus diesem Buch beziehen können. Während er dem Schriftstück auf seinem Marmortisch langsam beim Verbrennen zusah, versuchte er den Kampf gegen seine wieder gewachsene Schläfrigkeit nicht zu verlieren. Diesmal konnte er jedoch nicht lange Widerstand leisten und sein Kopf sank auf die Marmorplatte seines Tisches während sich seine Augenlider langsam schlossen.
Erneut sah er eine junge Frau. Als Baratus versuchte sich ihr zu nähern, wich sie einige Schritte zurück. Er schien die Gebrechlichkeit seines Körpers vergessen zu haben und begann zu Laufen. Langsam konnte er sich der Frau annähern, doch je kürzer die Distanz zu seinem Zielobjekt war, desto unklarer und verschwommener erschien ihm diese. Als er glaubte, sie beinahe berühren zu können, verschwand sie. Leer. Erst jetzt bemerkte er, dass die Umgebung, in der er sich befand, weder über einen Untergrund noch über Himmel oder eine eigene Umwelt verfügte. Alles um ihn war leer. Plötzlich Geräusche. Flüsterstimmen von allen Seiten versuchten ihm etwas mitzuteilen. Doch die Sprache, die er hörte, war ihm unbekannt. Baratus drehte seinen Kopf in sämtliche Himmelsrichtungen, doch er konnte keinen Sender der ihm fremden Botschaften ausmachen. So schnell die Flüsterstimmen eingesetzt hatten, so schnell klangen sie wieder ab. Er hörte Schrittgeräusche, deren Lautstärke langsam anstieg. Baratus wollte wiederum seine Umgebung absuchen, doch er konnte sich nicht mehr bewegen. Er bemerkte, dass sich irgendjemand annährte. Windpfeifen setzte ein und die leere Umgebung begann sich langsam zu verdunkeln, bis er kaum noch seine eigene Hand vor seinen Augen sehen konnte. Das unbekannte Geschöpf hinter ihm schien stehen geblieben zu sein, da die Schrittgeräusche abklangen. Baratus nahm nun gut hörbare Atemgeräusche wahr.
Blitze durchzuckten den Raum und erhellten ihn erneut auf Tageslicht. Baratus schrak auf. Verwirrt über das soeben Erlebte versuchte er seine Gedanken zu ordnen, um möglichst schnell seine Arbeit fortführen zu können. Als seine Augen den Marmortisch absuchten, um die Überreste des vorher verbrannten Buches zu finden, war es verschwunden. Baratus ließ seine Blicke durch den ganzen Raum schweifen, konnte aber nichts finden. Er beschloss sich seinen Kopf später über dieses rätselhafte Verschwinden zu zerbrechen. Viel war noch zu tun und er musste all seine Kräfte auf das Fortführen seiner Arbeit konzentrieren, um sie keinesfalls zu gefährden. Baratus’ knöchrige Finger umgriffen die noch immer brennende Kerze. Langsam versuchte er sich erneut von seinem Stuhl zu erheben. Baratus näherte sich mit kleinen Schritten der Eingangstür. Als er nach kurzer Zeit dort angelangt war, griff er nach seinem Stock, den er neben die Tür gelehnt hatte, während er mit der Kerze den Raum ausleuchtete.
Mit leisem Knarren öffnete Baratus langsam die Tür. Er stützte sich auf seinen hölzernen Stock während er den dunklen Gang, der von seinem Zimmer wegführte, mit Licht füllte. Langsam schritt er voran und ließ seine Blicke über die Gemälde, die an den Wänden zu seiner Linken und seiner Rechten hingen, schweifen. Seine Schritte hallten vom Gangende wieder, während er sich langsam fortbewegte. Da sich zu solchen Zeiten unter normalen Umständen niemand in diesem Stockwerk aufhielt und Baratus erstmalig seit Stunden kurzzeitig nicht in seine Arbeit vertieft war, bemerkte er die beruhigende Stille, die hier schon stundenlang zu herrschen schien. Nach einigen Minuten des Entlanggehens blieb er vor einem Durchgang stehen. Er war an seinem Ziel angelangt. Der Mönch hielt die Kerze in den Raum, der sich vor ihm befand.
Unendlich viele Bücherregale schienen ihn zu füllen. Hier befand sich neben der großen Bibliothek in Demelor wohl die größte Ansammlung von Wissen auf ganz Tr’Eah. Nur ein kleines Fenster, welches dem einzigen Eingang gegenüberlag, spendete unter Tag Licht. Neben einer Leiter, die dazu dienen sollte, Bücher auf höheren Regalen zu erreichen, war der große Raum ausschließlich mit Büchern aufgefüllt. Dem Marmorboden, der sich noch im Gang befand, war nun ein einfacher Holzboden gewichen, der im Gegensatz zu den prunkvoll ausstaffierten Regalen eine widersprüchlich biedere Atmosphäre erzeugte. Mit einem kleinen Lächeln dachte Baratus an dem Moment zurück, an welchem er die Bibliothek das erste Mal betrat und er vom Anblick der großen Anzahl der vielen Bücher überwältigt wurde.
Langsam begab er sich zu einem der hinteren Regale und durchsuchte es kurz. Als seine Blicke auf die Seitenprägung eines kleinen unscheinbaren Buches fielen, nickte er, stellte die Kerze auf eine Regalablage und zog es langsam heraus. Mit seinen Fingern wischte er ein paar Mal über den Umschlag hinweg, um den sich über die Jahre angesammelten Staub zu entfernen. Als Baratus den Buchtitel entziffern wollte, erlosch die Kerze, obwohl kein Windstoß in sie hineinblies. Dunkelheit breitete sich aus.
Flüsterstimmen. Die gespenstische Stille wurde von Stimmen, die von allen Seiten auftraten, durchbrochen. Verzweifelt versuchte er den Ausgangspunkt dieses Ereignisses zu orten. Panisch drehte er sich in alle Richtungen während Schweißperlen von seiner Stirn rannen.
Plötzlich Schrittgeräusche deren Lautstärke sich zunehmend erhöhte. Baratus nahm seinen Stock und warf ihn panisch in die Richtung, aus der er die Geräusche vermutete. An der zunehmenden Lautstärke der Schritte änderte sich aber dennoch nichts. Beide Hände griffen fest nach dem Buch, das er noch in seiner Hand hielt. Die Schrittgeräusche setzten aus und eine unglaubliche Leere schien den Raum zu füllen. Baratus nahm Atemgeräusche wahr. Danach setzte Stille ein, die sich bis zu Tagesanbruch durchziehen sollte.
 

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