... für Leser und Schreiber.  

Sühne

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©  Aphril   
   
Obwohl die Sonne noch hoch oben am Himmel stand und ihr helles Licht auf die Häuser und Felder unter ihr schickte, durchdrang kaum ein Sonnenstrahl das dichte Blätterdach des kleinen Wäldchens unten am Hang. Obwohl das Summen vieler kleiner Insekten die Luft erfüllte und sich die Äste der spärlichen Obstbäume auf den Feldern unter ihrer süßen Last tief nach unten bogen, herrschte eine bedrückende Stille in der Dunkelheit des Waldes. Und trotz des schwül-warmen Mittags war es dort kalt.
Zwischen den Bäumen lag der bewegungslose Körper einer jungen Frau.
Ihre Haut war schneeweiß und es sah aus, als müsste sie an diesem warmen Sommertag in der Kühle des düsteren Waldes erfrieren; ihr schwarzes Haar war zerzaust und voller Blätter und Zweige; ihre Augen hatte sie fest geschlossen. An ihrem schlanken Körper trug sie ein kurzes, rotes Sommerkleid, das einmal sehr schön gewesen sein musste, jetzt jedoch zerrissen und dreckig war. Ihre rechte Hand hatte sie tief in den feuchten Erdboden gekrallt und Arme und Beine waren übersät mit Kratzwunden wie von Dornen.
Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Brust hob und senkte sich; sie schien ohnmächtig oder wenigstens in einen sehr tiefen Schlaf gefallen zu sein.
Plötzlich ging ein Beben durch ihren Körper und sie schlug langsam die Augen auf; sie hatte fahle, blassgrüne Augen, die nun mit Schrecken ihre Umgebung betrachteten:
„Wo bin ich?“ Ihre leise Stimme, nur ein Wispern, ein kaum hörbares Hauchen, klang in der undurchdringlichen Stille des Waldes laut und dröhnend; sie zuckte zusammen und schlang die Arme um den Körper. Die Kälte ließ sie frösteln. Die großen dunklen Tannen standen eng beieinander und schienen sie einzuschließen, als wollten sie sie nie wieder aus diesem Wald entkommen lassen. Die junge Frau ließ ein kurzes Keuchen hören. Sie zog die Beine an den Oberkörper heran, und ihre Augen suchten panisch die Umgebung nach einer Möglichkeit zu fliehen ab.
Sie konnte sich nicht erinnern, was geschehen war. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hier hingekommen war oder wo sie wirklich hingehörte, nicht einmal ihren Namen wusste sie noch. Nur dass in diesem Wald etwas dermaßen Grauenhaftes geschehen war, dass sie vor Furcht alles hatte vergessen wollen – dessen war sie sich sicher.
Die junge Frau erhob sich zitternd und sah an sich hinab: Was sie erblickte, ließ sie erneut aufschluchzen; übersät mit Blut, Schmutz und Wunden war ihr Körper und jeder einzelne Knochen schmerzte. Sie begann zu weinen, aber sie ließ sich nicht wieder auf den Boden sinken. Sie fühlte, wie ihr eigenes warmes Blut langsam ihre Stirn hinunter rann; die junge Frau musste sich wohl den Kopf aufgeschlagen haben, als sie zu Boden gestürzt war.
Schluchzend stand sie auf dem feuchten Waldboden, im dämmerigen Dunkel unterhalb des Blätterdaches und der Wald lauschte ihrem Weinen regungslos.
Die Minuten verstrichen, und ihre Tränen wollten nicht versiegen; sie weinte um die Grausamkeiten, die wohl geschehen waren, sie weinte um ihre verlorene Erinnerung, und sie weinte vor allem um sich selbst.
Doch irgendwann ballte sie entschlossen die Fäuste und schluckte die bitteren Tränen schlussendlich hinunter; und am Ende fühlte sie sich doch ein wenig getröstet.
Vor ihr lag ein von Tannennadeln und Zweigen bedeckter Weg, eigentlich nur ein dünner Pfad, der nach wenigen Metern in der Dunkelheit verschwand. Es war unmöglich festzustellen, ob er tiefer in den Wald hinein führte oder ob er denjenigen, der ihm folgte, schließlich aus dem Wald heraus brächte. Die junge Frau wusste nichts anderes zu tun als ihm zu folgen und darauf zu vertrauen, dass jeder Weg irgendwann einmal zu einem Dorf führt.
Sie schwankte ein bisschen und ging unsicheren Schrittes auf die Dunkelheit zu, aber sie blieb nicht stehen. Mit einer Hand hielt sie die Platzwunde an ihrem Kopf zu, um den Blutfluss zu stoppen; die Tränen standen ihr noch immer in den Augen und sie konnte den Weg vor ihr kaum sehen.
Ständig stolperte sie, blieb mit dem Fuß an Wurzeln hängen und stürzte wieder zu Boden. Ihre Hände und Knie schmerzten und nach wenigen Schritten taumelte sie immer mehr als noch gerade gehen zu können; der Wald schien sie geradezu daran hindern zu wollen, einen Weg nach draußen zu nehmen.
Plötzlich blieb sie erneut mit dem Fuß an etwas hängen und stürzte zu Boden; sie blickte zurück und erschrak: Aus dem Gebüsch am Wegesrand ragte eine schneeweiße, menschliche Hand. Entsetzt starrte sie die Hand an, über die sie gefallen war – noch mehr erschreckte es sie, dass sie mit quälender Gewissheit wusste, dass die Hand etwas mit ihrem verlorenen Gedächtnis zu tun. Für einige Sekunden starrte sie die Hand nur fassungslos an, dann kroch sie zitternd darauf zu. Die Tränen konnte sie nun nicht mehr zurückhalten und schluchzend umfasste sie die Hand der Leiche und zog daran; der schwere Körper, im Unterholz verborgen, ließ sich kaum bewegen, und die junge Frau zerrte weiter hilflos an Hand und Arm, doch konnte sie, auf dem Waldboden hockend, nicht genug Kraft aufbringen, um den toten Menschen vollständig aus dem Gebüsch herauszuziehen.
Sie richtete sich auf und bog die Äste des Gestrüpps auseinander: Das fahle Gesicht einer jungen Toten kam zum Vorschein, und die junge Frau wich schreiend zurück: Sie kannte die Tote, und sie kannte ihre Mörderin.
Sie konnte sich erinnern...
„Ich bin eine Mörderin ..“ wisperte sie leise; sie hatte den geliebten Menschen, der ihre Gefühle nicht erwidert hatte, in fieberhafter Wut umgebracht, all ihre Verletzungen waren Zeichen einer heftigen, aber ergebnislosen Wehr, Zeichen, die das Opfer seiner Peinigerin kurz vor seinem Tod beigebracht hatte.
Die junge Frau sank in Tränen aufgelöst über den toten Körper; mit diesem grausamen, selbstsüchtigen Mord hatte sie auch ihr eigenes Leben beendet. Erschüttert blieb sie bei der Toten sitzen...

Tage später erst fand man die beiden Leichen: die eine unter großem Aufwand und viel Anstrengung ohne Werkzeuge vergraben, mit Blumen über der Stelle, als ob man sie bestattet habe und die zweite, baumelnd unter einer alten Kiefer, die sich mit einem Gürtel selbst gerichtet hatte.
Der Wald hatte die junge Frau am Ende doch nicht mehr gehen lassen.
 

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