... für Leser und Schreiber.  

Träume des Grauens - Teil 1

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©  Pyro   
   
Eila schleppte sich weiter, Tränen strömten über ihr qualvoll verzerrtes Gesicht. Immer noch dröhnten die Worte in ihrem Kopf, schienen ihre Seele in Stücke zu reissen. Ihr ganzer Körper zitterte und sie hatte Mühe aufrecht zu gehen. Schritt für Schritt trieb sie sich voran, bis das Rauschen des Flusses an ihre Ohren drang. Doch nur unbewusst bewegte sie sich auf das vertraut und beruhigend wirkende Geräusch zu. Die dumpfe Wolke aus Trauer und Wut schien nicht gehen zu wollen. Nein, sie war nicht mehr willkommen. Einmal hatte sie selbst gehandelt, selbst gedacht. Und dann hatten sie ihr das angetan. Sie so erniedrigt, ihre Ehre zerbrochen, sie am Boden zerstört und mit Füssen getreten. Nein, sie konnte nicht mehr zurück. Bis ans Ende ihrer Tage würden sie sie misshandeln. Lieber wollte sie es nun zu Ende bringen. Sie hatte genug ertragen und noch immer quälten sie nachts die Erinnerung an diese schrecklichen Erlebnisse. Niemand war für sie da, niemand würde sich für sie einsetzen und um sie kümmern.
Schliesslich hatte sie die Schlucht, in welcher das Wasser des flachen Flussbetts tosend seinen Weg nahm, erreicht. Doch kaum war sie auf der Anhöhe angekommen, trieben sie Qual und Entkräftung in die Knie. Schluchzend brach sie mit zuckendem Leibe zusammen. „Warum nur... warum ich...?!“, schrie sie verzweifelt. Sie kniff die Augen zusammen und grub ihre Wange in den feuchten Sand. In ihrer Verzweiflung bemerkte sie nicht, dass zwei Augen sie mitleidig beobachteten. Dann nahm Eila alle ihre Kraft zusammen. Nun würde sie es zu Ende bringen und sich nicht selbst aufhalten. Dafür musste sie sich noch einmal anstrengen, ein letztes Mal. Sie rappelte sich auf und trat langsam an den Rand der Schlucht. Und wie das Rauschen lauter wurde, begann sich der Nebel zu lichten und eine seltsame Ruhe breitete sich in ihrer Seele aus. Sie blickte den Abgrund hinab. Einige grosse Steine lagen im seichten Flussbett. Sie hatte die ideale Stelle gefunden. Hier würde es schnell und schmerzlos gehen. Ein gequältes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Die Augen im Gebüsch begannen verunsichert zu blinzeln. Dann breitete sie ihre Arme aus, wie ein Engel, welcher gen Himmel fliegen wollte, legte ihren Kopf in den Nacken, warf einen letzten Blick in das in gräuliches Zwielicht getauchte Firmament und schloss die Augen. Darauf weiteten die Augen sich plötzlich und eine Gestalt schnellte aus dem Gebüsch hervor. Schon liess sie sich nach vorne fallen, doch dann spürte Eila nur noch, wie zwei Arme ihren Körper packten, sie zu Boden stürzten und sie hart mit dem Kopf aufschlug. Wirre Bilder flimmerten in der Schwärze und jagten sie durch ihre Besinnungslosigkeit, immer und immer wieder sah sie ihre Peiniger erscheinen.
Irgendwann öffnete sie ihre Augen. Das erste was sie erblickte, war ein verschwommenes beigefarbenes Etwas, welches sich über ihrem Kopf befand. Langsam schärfte sich ihre Sicht und sie erkannte eine Holzdecke. War sie etwa im Keelaan angelangt?
Hatte sie den Sprung geschafft? Doch dann spürte sie sogleich wieder, wie die Demütigung ihre Seele würgte. Nein, jemand hatte es verhindert... die starken Arme... Sie blicke um sich und stellte fest, dass sie in einem Bett lag. Doch es war keine Pritsche aus einem Sheetizelt.
Es war ein Menschenbett. Ein dumpfes Unwohlsein drückte auf ihren Magen. Sie fuhr mit der Hand zum Kopf um sich die Augen zu reiben und bemerkte eine Schürfwunde an der Stirn. Sie rieb das Blut zwischen den Fingerkuppen und stellte fest, dass es bereits leicht angetrocknet war. Was ging hier vor? Warum lebte sie noch? Ein helles Scheppern riss sie aus ihren Gedanken. Eila hob den Kopf und liess ihren Blick durch den kleinen Raum schweifen.
Sie entdeckte eine Gestalt, welche an einem Schrank stand und munter an irgendwelchen Apparaturen herumwerkelte. Hatte er oder sie Eila hier hin verschleppt? Unwillkürlich gab sie einen quiekenden Gähnlaut von sich, worauf sie sich erschocken die Hände auf den Mund legte.
Die Gestalt drehte sich um und trat an das niedrige Bett heran. Entsetzt riss sie die Augen auf. Es war ein Menschenjunge! „Ah, du bist aufgewacht“, sagte er in ruhigem Ton. Eila vergrub sich verängstigt in der Bettdecke. „Was hast du?“, fragte er vorsichtig. Als sie immer noch keine Antwort gab, berührte er vorsichtig ihre Schulter, worauf sie zusammenfuhr und ihn böse anfunkelte. Erschrocken zog er die Hand zurück und blickte sie traurig an. Dann wandte er sich ab und ging an den Schrank zurück. Eila liess sich zurücksinken und musterte die ungemaserte Decke des kleinen Raumes. Im Moment wollte sie nichts sagen, keine Rechtfertigung abgeben. Sie wollte nur Antworten auf all ihre Fragen. Wie sie vor sich hin grübelte, bemerkte sie, dass kleine Lichtflecken auf der Decke herumtänzelten. Dieser hübsche Anblick vermochte sie ihren Gram ein wenig zu vergessen und ihr sogar ein kleines Lächeln zu entlocken. Sie versuchte den Ursprung der Lichter zu orten und entdeckte, dass in dem Schrank, vor dem der Junge stand, Feuer brannte.
Der Junge rührte mit einer Kelle in einem Kessel und gab hin und wieder irgendwelche Dinge hinein. Einige Zeit lang beobachtete sie sein Treiben, dann wurde sie von einem verführerischen Düftchen abgelenkt, welches vorwitzig in ihre Nase stieg. Nun war ihr klar, was der Junge da tat, er bereitete Nahrung zu. Aber für wen? Doch schliesslich rüttelte sie sich selbst wach. Was dieser Junge da tat oder wollte, war eigentlich unwichtig. Tatsache war, dass er ein Mensch war und somit der Feind. Sie wollte gar nicht wissen, was er oder einige seiner anderen Kumpanen ihr antun wollten. Eila legte ihren Kopf zur Seite und entdeckte ihr Messer auf einem Schränkchen neben dem Bett liegen. Offenbar hatte man es aus dem Bund an ihrem Bein entfernt, doch warum lag es dann so offen herum, in Griffweite? Zum Überlegen blieb keine Zeit. Sie ergriff das Messer, richtete sich im Bett auf und hob es an, um es nach dem Jungen zu werfen. Einige Sekunden hielt sie es fest, unentschlossen den Menschen wirklich zu töten. Wie sie noch mit sich selbst kämpfte, ertönte plötzlich seine gelassene Stimme. „Töte mich, wenn du willst. Ich werde mich bestimmt nicht wehren.“ Entgeistert liess sie die Waffe sinken. Er hatte sich noch nicht einmal umgedreht, sondern rührte seelenruhig weiter. Dann ergriff er einen Korb mit Verbandszeugs und ging abermals zum Bett, wo er Eila, das Messer in der Hand haltend, völlig konsterniert vor sich hinblickend vorfand. Er blieb einige Sekunden vor ihr stehen, stellte den Korb auf den Boden, setzte sich langsam auf den Bettrand und blickte sie an, mit seinen blauen, traurigen Augen und einem melancholisch liebevollen Lächeln, welches das schönste war, das sie jemals gesehen hatte.
Sie schluckte heftig und presste die Lippen zusammen. Nein, sie durfte sich nicht davon beeinflussen lassen, das war sowieso nur ein Trick. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, riss sie blitzschnell das Messer hoch und holte Richtung Arm aus, um ihn zurückweichen zu lassen, verfehlte diesen jedoch und traf unter die Schulter. Der Junge schrie nicht. Unter leisem, ersticktem Wimmern krümmte er sich und zuckte einige Male. Entsetzt über ihre Tat hielt sich Eila die Hände vor den Mund. „Oh Gott... es tut mir Leid... ich...“ Doch er reagierte nicht. Schwach hob er seine Hand und ergriff das Messer. Mit einem Ruck zog er es heraus, worauf sein ganzes Hemd mit Blut bespritzt wurde. „Ich wollte das nicht...“ Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Vielleicht hatte sie ihm grosses Unrecht getan und er wollte ihr gar nichts Böses. Er war doch noch ein halbes Kind, wie sie. Erschöpft stöhnte der Junge auf und legte das blutverschmierte Messer auf das Tischlein neben dem Bett. Er sah die Elitin erneut an. In seinem Gesicht stand immer noch der gleiche Ausdruck. „Ist schon gut...“, antwortete er schwach. Mühsam bückte er sich und hob den Korb auf das Bett. Der Junge ergriff eine Gaze und träufelte Desinfektionsmittel auf. Dann deutete er auf die Schürfwunde an ihrer Stirn. „Ich muss das desinfizieren. Es entzündet sich sonst.“ Sie starrte ihn ungläubig an. Gerade erst hatte sie ihm ein Messer in den Körper gerammt und dennoch sorgte er sich dermassen um ihre Gesundheit. Was war hier los? Langsam streckte er die Hand mit der betupften Gaze aus. Als er ihr Gesicht beinahe berührte, begann er zu zittern, da er eine weitere Attacke erwartete. „Das... wird jetzt ein wenig brennen“, stammelte er und sie sah wie seine Augen nervös zuckten. Schliesslich überwand er jedoch seine Angst und drückte das Gazetüchlein vorsichtig auf die Schürfung, worauf Eila die Zähne zusammenbiss. Ein heisser Schmerz breitete sich auf ihrer Stirn aus. Sie stöhnte leise auf, wehrte sich jedoch nicht dagegen. „Ist ja gut... ich bin gleich fertig.“, murmelte er leise. Er zog das Tüchlein weg und holte ein Pflaster aus dem Korb. Eila blickte ihn leicht verängstigt an und klammerte sich an die Bettdecke.
„Nur ein Verband“, versicherte der Junge, klebte es vorsichtig auf die Wunde und strich es fest. Dann fuhr er mit seiner Hand über ihre Wange und lächelte wieder. „Hab keine Angst, ich...“ Plötzlich krümmte er sich und presste seine Hand auf die Wunde, worauf Blut herausquoll. Eila öffnete erschrocken den Mund „Du musst auch verarztet werden! Sie ergriff den Korb und zerrte den Jungen zu sich, was ihn laut aufschreien liess. „Ich tu’ dir nichts! Halt still!“ Sie ergriff einige Gazepäcken und ein Verbandröllchen und machte sich daran zu schaffen. „Danke“, ächzte der Junge als sie fertig war. „Danke? Wofür? Ich habe dich beinahe umgebracht!“ Er zuckte mit den Achseln „Mir egal.“ Sie starrte ihn ungläubig an und wollte den Mund gerade zu einer Bemerkung öffnen, als plötzlich Lärm ertönte. Laute Stimmen dröhnten dumpf durch die Holzwände des kleinen Raumes. Im selben Moment veränderte sich der Ausdruck im Gesicht des Jungens. Er wurde kreidebleich und bevor Eila einen Ton herausbringen konnte, stürzte er sich auf sie, drückte sie in die Matratze und presste seine Hand auf ihren Mund. „Kein Wort!“, zischte er und liess langsam von ihr ab. Keine zwei Sekunden später hämmerte eine Faust gegen die Türe. „Aufmachen! Sofort!“ Der Junge deutete Eila an, die Decke über den Kopf zu ziehen. Sie nickte vorsichtig und verkroch sich unter dem dicken Baumwolltuch, linste jedoch vorsichtig darunter durch zur Türe. Langsam schleppte er sich zur Türe und öffnete sie. „Hört zu, Bauer, ich... was zum?!?“ ertönte eine barsche Stimme und sie sah wie der Junge zusammenfuhr. „Wo sind deine Eltern, Lümmel!“
„Ich...das ist meine Hütte, sie sind im...“ „Halt den Mund!“, ertönte es wieder. „Weißt du etwas über Sheetis in diesem Gebiet?“ „Nein“, antwortete er bestimmt. „Du hast also keines dieser dreckigen Viecher gesehen?“ „Nein, schon lange nicht mehr.“ Kurze Zeit herrschte Stille. „Was hast du da?“ Eila sah, wie ein Arm auf die Wunde zeigte. „Ich bin gestürzt, beim Fischefangen.“, log er. Plötzlich streckte der Sprechende einen Kopf durch die Türe und suchte das Zimmer ab, worauf sie erschrocken stillhielt. Mit einem verächtlichen Grunzen zog der Mann seinen Kopf wieder heraus. „Falls du was siehst, kommst du sofort zum Kowoklager und berichtest es. Verstanden?“ Der Junge nickte eingeschüchtert. Eila hörte stampfende Schritte, welche sich langsam entfernten. Einige Zeit lang blickte er seinem Peiniger noch nach, dann schloss er die Türe und liess sich resigniert auf einen Stuhl sinken und starrte vor sich hin. Schliesslich murmelte er schwermütig, ohne den Kopf zu heben: „Du kannst herauskommen. Der kommt wahrscheinlich nicht mehr.“ Eila kroch unter der Decke hervor und blickte ihn fragend an. „Warum?“ Doch der Junge reagierte nicht. Eila seufzte, kletterte aus dem Bett und setzte sich darauf. Darauf blickte der Junge auf, machte jedoch keine Anstalten, sich zu der Elitin zu setzen. Eila öffnete den Mund um ihre Frage zu wiederholen, doch sie schloss ihn sogleich wieder. Der Blick des Menschenjungen hatte sie gefangen genommen. Es war ein seltsamer Blick, welcher so fremd und so nah zu sein schien. Es war ein Blick, welcher die Unendlichkeit widerspiegeln zu schien und dennoch wie ein leerer Raum auf seinen Augen lag. Der Blick eines tapferen Kriegers, welcher nach langem Kampf schliesslich von einer unablässlichen Macht in die Knie gezwungen, gebrochen und von endlosen Schmerzen bis in die Träume gequält wurde. Ja, dieser Blick war ihr bekannt. Wenn sie morgens zu den Ufern des Flusses gelaufen war, um Wasser zu holen und sich zu waschen, dann hatte sie im Wasser diesen Blick gesehen. Stumm und kalt hatte er in ihre Augen gestarrt, bis die Wasseroberfläche schliesslich von fallenden Tränen verzerrt worden war. Lange blickten sie sich so in die Augen, bis sich Eila schliesslich zusammennahm und es nochmals versuchte. „Warum hast du es verhindert?“ Er holte geräuschvoll Luft und liess sie danach wieder ziehen. „Du würdest es sowieso nicht verstehen.“ Sie verzog verwirrt ihren Mund. „Ja ich verstehe es nicht. Seit Jahren dauert dieser Krieg an, erbitterte Kämpfe. Dann will ein Elitemädchen ihrem Leben ein Ende setzen und wer verhindert es? Ein Menschenjunge.“ Sogleich biss sie sich auf die Lippen, da das letzte in ziemlich verächtlichem Tonfall ausgefallen war.
 

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