... für Leser und Schreiber.  

Ein Fisch sein

273
273 Stimmen
   
© Jonatan Schenk   
   
An seinem achtzehnten Geburtstag ging Jan Wieland von zu Hause fort.
Jan war immer ein guter Schüler gewesen, und mit Anderen seines Alters kam er gut zurecht. Mit den Mädchen hatte er auch Erfahrungen.
Er hatte eigentlich keinen Grund, denkt sein Vater, der Kalle Wieland heisst, und bei einer Bank arbeitet.
Heute kommt Kalle von der Arbeit nach Hause, und findet in seinem Briefkasten eine Postkarte von seinem Sohn.
Vielleicht komme ich eines Tages wieder. Wenn du verstehst.
Die Karte ist aus Rio de Janeiro.
Kalle Wieland öffnet den besten Wein, den er im Haus hat, einen 89er Schiopettino. Es ist die erste Nachricht, die er von seinem Sohn erhält.
Weitere Postkarten wird Jan seinem Vater nicht schicken. In ein paar Tagen wird er tot sein.

Der Kapitän ist ein mürrischer alter Seebär. Ein Sklaventreiber, sagt die Mannschaft. Es gibt immer etwas zu tun an Bord eines Schiffes, sagt er.
Der Smutje hat keine Geschmacksnerven. Jan kann kochen. Aber er ist nur Küchengehilfe.

Er hat einen Freund, der Bruno heisst. Bruno ist ein Säufer, sagt der Sklaventreiber. Bruno ist ein Philosoph, sagt der Küchengehilfe.
Manchmal steht Jan an der Reling und träumt vom Horizont. Er kann schwimmen, aber er ist ein Seemann und kein Fisch.
In ein paar Tagen wird er tot sein.

Etwas erreichen zu wollen heisst, Träume zu haben, sagt der Trunkenbold. Vor allem heisst es, hart zu arbeiten, der Kapitän. Wenn ich ein Fisch wäre, der Tagträumer. Würden wir dich essen, der Smutje. Schwachkopf, sagt Bruno.

Kalle Wieland sitzt in seinem Wohnzimmer, trägt einen Anzug und trinkt Wein. Jan ist so ein kluger Junge, er könnte Jura studieren oder BWL, vielleicht wird er einmal ein erfolgreicher Manager, denkt er. Er überlegt sich nicht, was er seinem Sohn sagen würde, wenn der in diesem Moment vor der Tür stände. Dass Jan nie wieder vor der Tür stehen wird, weiss sein Vater nicht. In ein paar Tagen wird er tot sein.

Wenn ich nun wirklich ein Fisch wäre, sagt Jan zu Bruno. Einer der nicht schmeckt...
Ich weiss, was du meinst, antwortet der, und er weiss es wirklich. Bruno versteht ihn.
Wenn das Schiff in Buenos Aires anlegt muss Bruno von Bord gehen. Der Kapitän sagt, er trinkt zu viel, und er wird nicht mehr gebraucht.

Irgendwann wird es ein Schiff geben, das keinen Kapitän hat, sagt Bruno, und du wirst dabei sein.
Das werde ich nicht, sagt Jan.

In ein paar Tagen wird er tot sein, er wird sich erhängen.
Niemand wird Bruno fragen, aber wenn ihn einer fragen würde, dann würde er antworten: Er ist jetzt ein Fisch.
 

http://www.webstories.cc 27.04.2024 - 18:54:28