... für Leser und Schreiber.  

Was auch kommen mag

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©  sweet_kitten   
   
Nun blieb ihr also noch eine Stunde, so stand es zumindest auf dem Beipackzettel. Eine Stunde, 60 Minuten, 3.600 Sekunden. Wie viele Herzschläge waren das? Wie viele Atemzüge? Vielleicht war es auch nicht mehr so lang, schließlich hatte sie nicht eine Tablette genommen, sondern zehn. Als sie sich in ihr Bett legte, schmerzte ihr Hals von den kleinen, harten Kugeln. Doch bald hätte es ein Ende mit den Schmerzen und dem Leid, bald würde sie auch den Menschen, die sich einst ihre Freunde nannten, nicht mehr in die Augen blicken müssen. In den letzten Wochen hatte sie das allerdings sowieso nicht allzu oft tun müssen, da sich keiner mit ihr abgegeben hatte. Vielleicht hatten sie alle Recht, sie war es nicht wert, die Zeit ihrer Mitmenschen zu verschwenden. Seit Monaten war sie kaum von zuhause weggekommen, hatte sich nie mit Freundinnen getroffen. Sie hatte Angst. Angst, jemand könnte ablehnen, wenn sie vorschlug, man könne ja mal wieder etwas zusammen unternehmen. Sie spürte wieder diesen unglaublichen Druck, unter dem sie schon seit Wochen stand. Alles musste perfekt sein, in der Schule wollte sie nur Einsen schreiben, ihre Freizeit musste gefüllt mit anspruchsvollen Beschäftigungen sein, jeder musste sie mögen. Und je mehr sie sich selber diesem Druck unterwarf, desto weniger gelang ihr das alles.
Außenstehende hätten zu ihr gesagt: Was willst du eigentlich noch erreichen? Du bist eine der Besten in der Schule, du hast viele Freunde, du hast eine tolle Familie, du bist intelligent und siehst nicht schlecht aus.
Doch was sollte sie damit anfangen, empfand sie das alles doch nicht so! Ja, sie war gut in der Schule, doch zu welchem Preis? War sie nicht in allen anderen Klassen als Streberin verpönt, auch wenn sie noch so oft betonte, dass sie nicht mehr lernte als ihre Mitschüler?
Ja, sie hatte auch viele Freunde. Gehabt. Als sie sich ihnen noch stellte und sich nicht mehr und mehr in sich zurückzog. Allerdings waren viele dieser Freundschaften schon immer sehr oberflächlich gewesen und ihre beste Freundin hatte sich in den letzten Monaten auch mehr und mehr von ihr abgewandt.
Ja, ihre Familie war wirklich toll, sie war das einzige, was ihr bis zum heutigen Tage noch Halt gegeben hatte. An sie war auch ihr Abschiedsbrief gerichtet, schließlich wollte sie ihnen sagen, dass sie nicht an dem Schuld hatten, was im Moment mit ihr geschah. Unaufhaltsam. Inzwischen waren die Tabletten schon in ihrem Magen angekommen, bald erreichten sie in den Darm, die betäubenden Wirkstoffe gelängen in ihr Blut und benebelten allmählich ihre Sinne, bis sie sanft entschlummerte.
Ja, sicher war sie auch nicht dumm und hässlich auch nicht. Aber was nützte ihr das? Sie war nun sechzehn Jahre alt und noch nie mit einem Jungen „gegangen“ oder „zusammen gewesen“, wie man so schön sagte. Es gab da zwar jemanden, der sein Interesse an ihr offen zeigte, aber sie war wohl zu schüchtern, um diese Gefühle zu erwidern. Wie in so vielen Fällen. Wofür lohnte es sich also, weiterzuleben? Sie würde nie über ihren Schatten springen und etwas in ihrem Leben erreichen, nie heiraten, nie Kinder bekommen, nie die Schule abschließen, nie studieren, nie einen schönen Beruf haben. Sollte sie für immer und ewig zu Hause wohnen bleiben, ihren Eltern auf der Tasche liegen und womöglich als einer dieser hoffnungslosen, arbeitslosen, kinderlosen, glücklosen Menschen enden, die den Tag vor dem Fernseher verbrachten und nicht wussten was sie mit ihrem Leben anfangen sollten?
Dann doch lieber einen Schlussstrich ziehen unter all das Elend, dass das Leben für sie bereithielt.
Die Tränen rollten über ihre Wangen, als sie langsam in eine tiefe, schwarze Bewusstlosigkeit entglitt.
 

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