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Zum Buch "Der Vorleser" - Abschlussplädoyer der Staatsanwaltschaft

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© Simone Cyrus   
   
Hohes Gericht, sehr geehrte Rechtsanwälte,

hiermit kommen wir, die Staatsanwaltschaft, nach Anhörung aller Zeugen und Klärung des Sachverhaltes zu folgendem Ergebnis:
Die Angeklagte, Frau Hanna Schmitz, geboren am 21.10.1922 in Hermannstadt wird in den folgenden Anklagepunkten für schuldig befunden:

1) Unterlassene Hilfeleistung
2) Beihilfe zum Mord

Die Angeklagte hat bewusst gehandelt, dies hat auch das psychologische Gutachten bestätigt, welches Hanna Schmitz als bewusstseinsklar und allseits orientiert beschreibt. Somit liegt bei der Angeklagten auch keine verminderte Schuldfähigkeit vor.

Das Motiv der Tat, war der Versuch der Angeklagten, ihren Analphabetismus vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Es veranlasste sie auch, sich im Herbst 1943 freiwillig in den Dienst der SS zu begeben. Sie arbeitete als Aufseherin bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis Winter 44/45 in einem kleinen Lager bei Krakau. Zuvor hatte Frau Schmitz bei Siemens gearbeitet, wo ihr auch eine Beförderung zur Vorarbeiterin angeboten wurde. Diese Tätigkeit erforderte jedoch die Fähigkeit des Lesens und Schreibens und konnte somit nicht von Hanna Schmitz ausgeübt werden. Der Gang zur SS war dennoch nicht die einzige Möglichkeit, die sich der Angeklagten bot, um ihren Analphabetismus vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Der Verzicht auf die angebotene Stelle mit Angabe von persönlichen oder familiären Gründen wäre eine weitere und auch sehr naheliegende Möglichkeit gewesen. Die Angeklagte hätte ihrer, bis dahin zur Zufriedenheit ausgeübten, Arbeit bei Siemens weiter nachgehen können und somit wäre auch niemand wegen Frau Schmitz’ Vergehen zu Schaden gekommen. Über die Aufgaben, die sie im Konzentrationslagern erwarten würden, musste sie sich im Klaren gewesen sein, da es die Pflicht des Arbeitnehmers ist sich über seinen zukünftigen Arbeitsplatz zu informieren. Sie hätte auch andere Möglichkeiten nutzen können um an die erforderlichen Informationen zu gelangen, dazu ist es nicht zwingend notwendig den Arbeitsvertrag lesen zu können. Die Angeklagte ist nämlich nur dahingehend eingeschränkt, nicht lesen und schreiben zu können. Sie besitzt jedoch die uneingeschränkten Fähigkeiten des Sehens, Hörens und Sprechens und sie ist zudem befähigt eigenständig zu denken. Auf den Straßen konnte man sehen, wie die Juden behandelt wurden und es gab auch Gerüchte über das Geschehen in Konzentrationslagern, somit hätten ihr die Folgen ihres Jobs als Aufseherin bekannt gewesen sein müssen, zumindest ansatzweise.

Hanna Schmitz war an den Selektionen von Gefangenen beteiligt, die nach Auschwitz geschickt und dort umgebracht wurden. Es beläuft sich insgesamt auf eine Zahl von rund 1200 Gefangenen, die auf diese Weise ihren Tod fanden. Frau Schmitz hat das Schicksal von 1200 Menschen mit zu verantworten. Die Angeklagte war sich dessen bewusst und vollzog zudem noch eine persönliche Selektion. Unter den Gefangenen wählte sie die besonders schwachen und jungen Frauen aus, die sie unter ihren persönlichen Schutz stellte. Sie sorgte dafür, dass sie nicht arbeiten mussten, gab ihnen zu essen und die Gegenleistung, die sie ihr dafür erbringen mussten, bestand daran ihr vorzulesen. Ihre Schützlinge wurden zum Dank mit dem nächsten Transport nach Auschwitz geschickt. Sie hatte die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod der jungen Frauen. Die Angeklagte nutzte dabei die aussichtslose Lage, in der sich diese Frauen befanden aus, um ihr eigenen Befinden zu verbessern. Es ging Frau Schmitz einzig und allein um ihr eigenes Wohl, das Schicksal der jungen Frauen interessierte sie nur aufgrund dessen, da ihr dies ermöglichte, sie für ihre eigenen Zwecke gefügig zu machen. Die Angeklagte benutzte die Fähigkeit der Frauen um damit ihre eigene Schwäche zu kompensieren. Die Wahl der Schwachen ist darauf zurückzuführen, da sie sich nur ihnen gegenüber stark und überlegen fühlen konnte. Während bei einer starken Persönlichkeit, die Gefahr des Widerstandes bestand und sie sich folglich schwach und unterlegen gefühlt hätte. Dies hätte ihr ganzes Selbstwertgefühl ins Wanken gebracht, welches nur auf die Demütigung von Schwachen beruhte. Hanna Schmitz hätte auch die Möglichkeit gehabt, sich mit den Gefangenen zu verbünden und sie ohne Zwang zum Vorlesen bewegen können, doch sie entschied sich bewusst gegen diese Möglichkeit. Die jungen Frauen wurden vermutlich mit dem nächsten Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie sich nach einiger Zeit womöglich versuchten der Angeklagten zu widersetzen, ihr damit drohten ihren Analphabetismus ans Tageslicht zu bringen oder sie befürchtete dies einfach und um diese Gefahr möglichst gering zu halten, wurden sie weggeschickt.

Nach der Auflösung des Lagers brachen die Wachmannschaften und Aufseherinnen Richtung Westen auf. In der Bombennacht hatte Hanna Schmitz gemeinsam mit den anderen Aufseherinnen und Wachmannschaften die Gefangenen, mehrere hundert Frauen, in die Kirche eines Dorfes gesperrt. Als eine Bombe in den Kirchturm einschlug und die Kirche Feuer fing, hatte die Angeklagte keinen Versuch unternommen, die Gefangenen zu befreien.
In einer früheren richterlichen Vernehmung gab Hanna Schmitz zu, im Besitz des Schlüssels gewesen zu sein. Somit hätte sie ihn nur verwenden müssen, um die Frauen vor dem Tod zu bewahren. Doch sie folgte stattdessen dem Befehl, den sie von den Wachmannschaften erhalten hat, mögliche Fluchtversuche zu verhindern. Das als Beweis aufgeführte Protokoll, dass Hanna Schmitz unterschrieben hat, kann als dieses nicht gewertet werden, da sie dessen Inhalt nicht lesen konnte, ebenso wenig wie der Bericht, über die Bombennacht nicht als Beweis gewertet werden kann, weil sich nun herausgestellt hat, dass sie ihn nicht geschrieben haben konnte. Doch diese Tatsache entlastet sie keineswegs oder befreit sie gar von ihrer Schuld. In der vorherigen Verhandlung gestand die Angeklagte, dass sich der Schlüssel im Schloss der Kirche befand, somit hatte die Angeklagte die Möglichkeit gehabt, die Gefangenen ohne großer Schwierigkeiten aus der brennenden Kirche zu befreien, doch diese Möglichkeit nahm sie nicht wahr, stattdessen ließ sie die Gefangenen verbrennen. Der Befehl der Wachmannschaften hatte für sie Priorität vor dem Schicksal der Frauen. Zudem hatte sie Angst, dass sie dann die Kontrolle über die Frauen verlieren und ihnen nicht mehr überlegen sein könnte. Sie zeigte kein Gefühl menschlicher Regung, sie handelte kaltherzig und berechnend. Für die Verwendung eines Schlüssels, muss man nicht zuvor erst eine Gebrauchsanweisung lesen. Hätte sie sich ihrem Befehl widersetzt, so hätte dies für Hanna keine Konsequenzen gehabt, nur für die Frauen, die in der Kirche eingeschlossen waren, denn sie könnten jetzt noch am Leben sein. Die Befreiung hätte der Angeklagten nicht nachgewiesen werden können, sie hätte behaupten können, dass die Dorfbewohnern den Frauen zur Hilfe geeilt seien oder es den Frauen gelungen wäre, sich selbst zu befreien. Für das Handeln der Angeklagten gibt es keine Entschuldigung. Die von Hanna Schmitz begangene unterlassen Hilfeleistung hatte den Tod von mehreren hundert Frauen zur Folge.

In den Augen der Staatsanwaltschaft befreit der Analphabetismus die Angeklagte nicht von ihrer Schuld. Auch das Motiv ihn mit allen Mitteln zu verbergen, entlastet Hanna Schmitz nicht im geringsten. Sie hatte Möglichkeiten gehabt anders zu handeln, von denen sie jedoch keinen Gebrauch genommen hat. Sie hat den Tod vieler Menschen zu verantworten, die aus niedrigen Beweggründen sterben mussten. Daher hält die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe für angemessen.


Dieses Plädoyer ist in unserem Unterrichtsprojekt zu dem Buch "Der Vorleser" von Bernhard Schlink entstanden. Mit dem Wissen, dass sie Analphabetin ist, haben wir das Verfahren noch mal neu aufgerollt. In der neuen Gerichtsverhandlung fand dieses Plädoyer Verwendung. Sicher haben auch einige von euch dieses Buch gelesen und haben eine Meinung dazu. Ich würde mich freuen, wenn ihr mich an eurern Gedanken teilhaben lasst.
 

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