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Morgen kenne ich Berlin

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© Timo Braun   
   
Nachdem ich die unangenehme Falte aus meiner Socke herausgeglättet habe, ziehe ich die Schnürsenkel wieder fest an und binde den linken Schuh mit einer einfachen Schlaufe zu. Vorsichtig gliedere ich mich wieder in den Hauptstrom auf dem Bürgersteig der Oranienstraße ein. Noch rund dreihundert Meter und ich habe den Moritzplatz erreicht. Morgen werde ich dort wieder hin müssen, nur von der anderen Seite.
Die Gebäude auf der linken Straßenseite kenne ich alle schon – die habe ich vor genau elf Tagen abgeklappert. Aber rechts sind noch alle Bauten völliges Neuland für mich. Sie sind weder auffallend hoch, noch außergewöhnlich niedrig, vergleicht man sie mit dem Rest der Stadt. Am ehesten lassen sich die Fassaden wohl mit denen vergleichen, die ich vorletzten Dienstag durchgeschaut habe. Das war noch ein ganzes Stück weiter nordöstlich. Mittlerweile bin ich im südlichsten Bereich meiner neuen Heimat angekommen; beim Moritzplatz rechts die Prinzenstraße hinunter und nach gut vierhundert Metern zur Gitschinerstraße. Das ist die Südgrenze von Berlin Mitte. Nach weiteren fünhundert Metern muss ich dann wieder rechts, die Lindenstraße hinauf. Ein Kilometer ist die Strecke lang, ehe ich meinen heutigen Ausgangspunkt, das Figurentheater am Anfang der Oranienstraße wieder erreiche. Danach kommen alle Straßen, die sich innerhalb dieses Stadtbezirks befinden; die Postleitzahl ist 10969.
Eine Tankstelle mit gelber Muschel liegt zur Rechten, die muss ich mir aufschreiben. Heute ist es meine erste, insgesamt habe ich schon mehrere davon erschlossen. Wenn ich mir in einem der zwei Dutzend Autohäuser ein eigenes Fahrzeug zugelegt habe, werde ich wissen müssen, welche der Tankstellen die Günstigste ist. Diese hier hat wohl keine besonders guten Chancen.
Endlich der Moritzplatz. Ich hole den Stadtplan heraus und streiche mit einem blauen Textmarker die Oranienstraße durch. Da ich den Platz schon zum dritten Mal passiere, muss ich mir nur eine Ecke genauer betrachten. Die Insel in der Mitte habe ich schon besucht und die Häuserfront auf der rechten Seite bietet wenig Bedeutendes. Aber ich kenne sie jetzt und kann weitergehen um die Ecke in die Prinzenstraße. Erwartungsgemäß ähneln die Gebäude hier den bisher Betrachteten sehr. Ich muss mir ihre Eigenarten gut merken, sollte ich mich einmal in dieses Gebiet verirren. Bis ans Ende der Straße kann ich blicken, so gerade ist sie.
Die andere Straßenseite lasse ich außer acht; die ist morgen dran. Der ganze Block zu meiner Linken ist erst morgen dran. Wenn ich den geschafft habe, ist alles erledigt. Dann ist die letzte freie Stelle auf meinem Stadtplan blau markiert und ich habe meine neue Heimat gänzlich erschlossen. Planmäßige fünf Wochen und sechs Tage habe ich dann dafür benötigt. Das ist schon ein bisschen mehr als es damals in Dankelshausen gedauert hat. Dort habe ich nach einer halben Stunde alles gesehen. Meine Mutter sagte immer: „Wer die Heimat nicht kennt, wird im Chaos des Lebens untergehen.“ Meistens hatte meine Mutter Recht.
Der Rest der Prinzenstraße ist gleichförmig, sieht man einmal von der Tankstelle mit dem blauen Karo ab, die Bleifrei für einen Cent weniger verkauft als die mit der Muschel.
Die Gitschinerstraße ist eine vielspurige Bundesstraße, die ich nur über eine Treppe erreiche. Mir ist unbehaglich, so schnell wie die Autos an mir vorbeirasen. Ich komme mir vor, wie auf einem Grenzwall, als ich die Strecke am Rande meines Gebiets abmarschiere und dabei immer wieder in die Seitenstraßen hineinspähe, die ich später alle durchschauen werde. Es braucht ganze sieben Minuten ohne Anhalten, ehe ich die Stelle erreicht habe, an der ich nach rechts in die Lindenstraße einbiegen muss.
Schon erstaunlich; in sieben Minuten habe ich es einmal um Dankelshausen herum geschafft. Mein ganzes bisheriges Leben wohnte ich dort und ich kannte jedes Haus und jede Straße. Von denen gab es genau fünf: Die Große Straße, die Kleine Straße, den Bonhof-, den Erbsen- und den Steinweg. Ich habe im Zentrum von Dankelshausen gelebt, rechts und links waren es bis zum Ortsende rund zweihundertfünfzig Meter. Jetzt wohne ich wieder im Zentrum, nur sind es bis zum Rand ungefähr dreieinhalb Kilometer. Daran erschließen sich die Vororte Wilmersdorf, Steglitz und Lichterfelde. Rechne ich sie dazu, sind es bis zur Stadtgrenze elf Kilometer. Aber die Vororte erschließe ich ein anderes Mal. Es reicht, wenn ich mich in Berlin Mitte bewegen kann.
Die Lindenstraße macht einen leichten Knick und dahinter befindet sich ein Museum. Ich präge es mir ein, gehe weiter und komme an ein Restaurant. Es ist Nummer siebenunddreißig in Berlin Mitte, wie mir meine Liste verrät. Auf der Speisekarte entdecke ich, dass Wiener Schnitzel mit Pommes dort fünf Euro fünfzig kosten. Das ist wohl einer der besten Preise, die ich kenne.
In Dankelshausen war es einfacher gewesen; da hatten wir drei Gaststätten in der Gegend und nur in zweien gab es Schnitzel mit Pommes. Hier ist das alles ein bisschen komplizierter mit dem Vergleichen.
Die restlichen zweihundertfünzig Meter finde ich nichts Interessantes mehr und ich erreiche endlich das Figurentheater, von wo aus ich gestartet bin. Ich markiere die abgelaufene Strecke auf meinem Stadtplan und begebe mich nun zur ersten Seitenstraße. Wenn ich das ganze Straßennetz innerhalb dieses Gebietes so zeitsparend wie möglich durchkämmen will, muss ich mit der Alten Jakobstraße beginnen, die sich durchs Ganze zieht. Das ist eine gute Orientierung, auch für die Zukunft. Ich gehe die Alte Jakobstraße hinein und biege gleich wieder in die erste Seitenstraße ein. Sie ist eine Sackgasse. Ich marschiere sie bis zum Ende ab, schaue mir dort alle Häuse an, drehe um und komme zurück zur Alten Jakobstraße. Ein paar Meter weiter kommt eine weitere Einmündung, diesmal auf der anderen Seite. Ich durchforste sie auf die gleiche Weise und stelle fest, dass alles hier sehr ähnlich aussieht. Es ist nicht gerade der schönste Bereich meiner neuen Heimat, aber schließlich soll man nicht nur die wichtigen und offensichtlichen Schauplätze kennen. Wer sich daheim wohlfühlen will, muss wissen, wo was zu finden ist. Auch das ist ein Ratschlag meiner Mutter. Seinerzeit in Dankelshausen war das leichter gewesen. Hier in Berlin muss ich mit System herangehen. Zwei Tage lang habe ich berechnet, wie viele Tage ich brauchen würde, um alle Straßen zumindest einmal begutachtet zu haben. Dann habe ich einen Plan erstellt, welches Gebiet ich an welchem Tag durchstreifen würde. Die nächsten drei Tage verbrachte ich damit, jede mögliche Strecke abzufahren, die mir die hiesigen öffentlichen Verkehrmittel bieten. Das kommt mir nun zugute, zumal ich mich nun bestens informiert in der ganzen Stadt bewegen kann, ohne auf eine zufällig passierende Straßenbahn hoffen zu müssen.
Ich betrete ein Netz aus kleinen Wegen und bekomme ein Gefühl der Unruhe, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich auch wirklich jeden Weg mitnehme. Ich muss so manchen Abschnitt zweimal passieren, damit ich jeden Bereich erreicht habe. Ein zufriedener Eindruck macht sich in mir breit, als ich das Netz wieder verlasse, es noch einmal überblicke und feststelle, dass mir nichts mehr unbekannt vorkommt.
Ich grüße mehrere Passanten auf der Alexandrinerstraße, die ich als zweite Achse in diesem Wohnbereich ausmachen kann. Die Leute grüßen mich nicht zurück, was mich wundert, zumal sie doch Mitbürger sind. Sozusagen fast Nachbarn. Wenn mich unsere Nachbarn in Dankelshausen einmal nicht grüßten, dann musste das bedeuten, dass ich entweder zu laut Musik gehört hatte oder Pusteblumensamen über unseren Zaun geflogen waren. Ich glaube, diese Passanten stört es weniger, wenn ich in meiner Wohnung etwas lauter Musik höre.
Soweit bin ich jedoch noch nicht. Meine ganzen Sachen sind noch feinsäuberlich in Umzugskartons gepackt. Bevor ich die Stadt nicht kenne, kann ich mich nicht mit gutem Gefühl einrichten. Mein Prinzip lautet immer: von außen nach innen. Zuerst das U-Bahnnetz, dann die Straßenbahn, dann das Straßennetz und zuletzt meine Wohnung. Von außen nach innen ist der Weg zum Wohlfühlen. Ich habe gar keine Zeit, mich schon jetzt um das Einrichten zu kümmern. Morgens stehe ich auf und früstücke. Das Essen habe ich mir alles von Dankelshausen mitgebracht. Solange ich mir noch keinen Überblick über die Berliner Einkaufsmöglichkeiten verschafft habe, kann ich hier ja nicht einkaufen. Aber ich habe die Konserven für die sechs Wochen genau kalkuliert; morgen gehen sie zu Ende. Das ist der Tag, an dem ich den letzten Abschnitt der Stadt erkundet haben werde. Nach dem Frühstücken lese ich Zeitung; das dauert rund drei Stunden. In Dankelshausen hatten wir nur eine Tageszeitung, da brauchte ich eine Viertelstunde, ehe ich alles Wissenswerte wusste. In Berlin ist das etwas anders. Hier muss ich etwa ein Dutzend Tageszeitungen durchlesen, bis ich wirklich alle Informationen habe. Größtenteils überschneiden sie sich, doch jede Zeitung hat etwas, was die anderen wiederum nicht haben. Ich frage mich, warum sie sich nicht zusammenschließen und alles in eine große Tageszeitung drucken. Wie auch immer, nach dem Zeitunglesen steige ich in die Straßenbahn und fahre zu dem Ausgangspunkt, von wo aus ich den Tagesabschnitt auskundschafte. Das braucht dann rund fünf Stunden. Ich steige wieder in die Bahn, fahre heim und während ich im Bett liege, versuche ich die neuen Eindrücke in ein Gesamtbild meiner neuen Heimatstadt einzufügen. Zugegebenermaßen war das früher leichter, als ich in einem Dorf mit nur siebenhundert Menschen lebte. Aber im Grunde ist Berlin ja nichts anderes, als eine Aneinanderreihung von hunderten solcher Siebenhundert-Mann-Dörfern.
Abgemüht erreiche ich wieder die Oranienstraße, siebenunddreißig Minuten früher als geplant. Das Gebiet ist vollständig erfasst, jede Möglichkeit durchgetestet. Morgen noch ein letzter Bezirk und ich habe meine neue Heimatstadt gänzlich kennen gelernt. Zufrieden gehe ich den kürzestmöglichen Weg in Richtung Straßebahnhaltestelle. Als ich ankomme, stelle ich fest, dass in vier Minuten der nächste Zug in meine Richtung fährt. Ich nutze die Zeit, mir die dreizehn Leute anzuschauen, die ebenfalls am Bahnsteig warten. Vier männliche und neun weibliche Personen sind es, nur fünf von ihnen können sitzen. Sie scheinen mich nicht zu registrieren, obwohl ich doch die nächsten Minuten mit ihnen im gleichen Zug verbringen werde. Ich versuche mir ihre Gesichter zu merken, vielleicht treffe ich den ein oder anderen wieder. Insgesamt sind mir meine neuen Mitbewohner recht sympathisch, wenngleich ich noch nicht so weit bin, Bekanntschaft mit ihnen zu schließen. Ich denke, wenn ich erst einmal die Mehrheit der Einwohner Berlins gesehen habe, kann ich mir immer noch aussuchen, mit wem ich mich näher anfreunden will. Erfahrungsgemäß kann man nicht mit jedem Mitbewohner engen Kontakt pflegen.
Noch zwei Minuten, dann müsste die Straßenbahn eintreffen. Die Leute scheinen sich kaum noch für die Umgebung hier zu interessieren. Vermutlich kennen sie alles schon zu genüge. Bei mir ist das anders. Ich sehe mir jedes Hause einzeln an. Nun ja, wenn mir erst einmal alles vertraut ist, wird sich das auch ändern.
Es ist soweit. Die Bahn trifft ein. Das Quietschen der Bremsen ist lauter als bei vielen anderen Stationen. Die Tür geht auf und insgesamt sechs Leute strömen heraus. Ich überlege, wo sie ihr weiterer Weg wohl hinführen mag. Leider habe ich nicht die Zeit nachzufragen. Jedoch ergibt sich, während ich noch vor der Tür warten muss, etwas Überraschendes. Einer der Aussteigenden wendet sich mit suchendem Blick auf einmal zu mir, wartet einen zögerlichen Moment ab und spricht mich dann mit wohlgewählten Worten an:
„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich zur Oranienstraße komme?“
Ich überlege. Es fühlt sich nicht gut an, einen Menschen enttäuschen zu müssen, wenn man so kurz davor ist, ihm helfen zu können. Doch ich erinnere mich an ein anderes Prinzip meiner Mutter und sage mit bedauerlichem Unterton:
„Es tut mir leid, ich bin auch neu hier. Aber fragen Sie mich morgen noch einmal. Morgen kenne ich Berlin.“
 

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