... für Leser und Schreiber.  

Vermeidungsstrategie

60
60 Stimmen
   
© Bianca    
   
Halbzeit. Aber nicht mehr lange. Der Schreibtisch ist übersät von Büchern, Zetteln, unbrauchbaren Stiften, Schokolade und Rechnungen. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch durchblicke. Aber tu ich da überhaupt? Eher weniger. Das Telefon läd dazu ein, einfach mal wieder jemanden anzurufen, nur damit ich um die Bücher und vor allem um den Inhalt dieser herum komme. Außerdem muss endlich mal wieder gespült werden. Ich schnappe mir das Telefon und wähle die erste beste Nummer. Besetzt. Schade.
In der Küche lasse ich das Wasser in die Spüle laufen, schmeisse das Geschirr hinein und verbrenne mir die Hände im heißen Wasser. Typisch. Nur nicht aufregen.
Das blättern der Seiten im Buch fällt jetzt besonders schwer. Außerdem bin ich irgendwie gerade sehr müde. Daher lege ich mich ins Bett und zappe durch die Kanäle. Hier eine Talkshow, dort eine Soap und Werbung was das Zeug hält. Man hat sich gegen mich verschworen. Missmutig setze ich mich wieder an den vollgepackten Schreibtisch und nehme mir dem schlechtkopierten Text vor. Es reihen sich zehnzeilige Sätze aneinander. Am Ende des ersten Satzes habe ich vergessen, was überhaut darin gestanden hat. Nach dem zehnten Versuch gebe ich auf und suche mir einen neuen Text. Einfacher, viel einfacher. Nach einigen Seiten glaube ich schon zwei Stunden gelesen zu haben und dabei sind erst fünf Minuten vergangen. Macht nichts. Jetzt muss ich mir erst einmal etwas zu essen kochen. Doch der Kühlschrank ist leer und weil ich seit heute morgen in meinem Schlafanzug durch die Wohnung geister, sehe ich auch in diesem Moment nicht ein, wieso ich jetzt um sechs Uhr abends meinen Look noch einmal ändern sollte. Außerdem kommt meine bessere Hälfte ja gleich heim, die kauft uns bestimmt eine Pizza. Ich habe einen Grund zu telefonieren. Schnell wähle ich die Nummer und bitte höflich um Nahrungsnachschub. Etwas genervt wird der Auftrag entgegen genommen. Warum? Der Aldi ist doch direkt nebenan!?
Nunja, zufrieden setze ich mich wieder an den Schreibtisch und quäle mich durch Krowatschek. ADS... Je länger ich lese desto intensiver denke ich darüber nach, ob ein unentdecktes "ADS-Opfer" bin. Viele der Symptome passen. Das würde einiges erklären. Ich werde unruhig, lege das Buch zur Seite und denke über meine Schullaufbahn nach. Spätzünder. Das hat meine Pädagogikleherin mal zu mir gesagt. Naja, nicht direkt zu mir, aber zu meiner Mutter. Kurz bevor ich sitzen geblieben bin. In mir beginnt es zu kochen. Hätte diese Lehrerin, dieser Profi von Pädagoge nicht ein paar Untersuchungen zu meinem schlechten Lernverhalten unternehmen können? Es war doch offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Ich greife wieder zum Buch. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass mich Fachliteratur so fesseln kann. Der gute Herr Krowatschek hat wohl Übung darin. Schließlich hat er sich jahrelang mit aufmerksamkeitsgestörten und hyperaktiven Kindern auseinandergesetzt. Ich bewundere ihn. Er sieht aus wie ein Weihnachtsmann. Etwas moderner vielleicht, aber nett sieht er aus. Es klingelt und vor der Tür steht der Nahrungsbote. Wunderbar. Aber jetzt bin ich sehr beschäftigt mit der Frage, ob ich vielleicht tatsächlich unentdeckt geblieben bin und meine bessere Hälfte muss nun mit mir darüber diskutieren. Allerdings stoße ich da auf Granit. Aber es ist ja nun auch schon reichlich spät. Weiterlesen wäre jetzt auch sinnlos. Daher freue ich mich jetzt über Gesellschaft und lege die Bücher an die Seite.
 

http://www.webstories.cc 17.05.2024 - 17:22:55