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Der Tag, an dem ich mannstoll war

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©  holdriander   
   
Es gab einmal eine Zeit, da war ich jung, lebenslustig und schrecklich naiv. Ich glaubte allen Ernstes, dass ein Mann, wenn er eine Frau küsst und zu ihr von Liebe spricht, auch die Absicht hat, sie zu heiraten. Spätestens dann, wenn ein Kind unterwegs ist. Dass ich da auf dem Holzweg war – obwohl meine Brüder die Frauen heirateten, die vorgaben, von ihnen schwanger zu sein – merkte ich erst nach dem dritten Kind.
Als mein Jüngster drei Jahre alt war, erkrankte ich an Krebs, wurde operiert und sollte zur Kur fahren. Ich wollte lieber bei meinen Kindern bleiben, denn wo sollten sie hin? Ich hatte keine Verwandten in der Stadt und meine Freundin war auch kürzlich weggezogen.
Ich erzählte auf der Arbeit von meiner Misere und schon erklärten sich einige Kolleginnen bereit, meine Kinder zu betreuen während der Zeit meiner Abwesenheit.
So geschah es. Ich fuhr in die Sächsische Schweiz und meine Kinder kamen in unterschiedliche Haushalte.
In den ersten Wochen dachte ich jede Minute an meine drei Lieblinge, bis meine Zimmergenossin schimpfte: „Hör endlich uff mit deine Kinda! Du bist zur Kur hier! Ahol dir endlich! Deine Jörn jeht det jut! Und die solln doch ne jesunde Mutta kriejen, oda?“
Ich musste lachen und von nun an ging s bergauf. Ich beteiligte mich an den Geselligkeiten, unternahm ausgedehnte Wanderungen und bekam sogar rote Wangen.
Es gab auch einen bunten Nachmittag mit Tanz. Da fiel mir eine Patientin auf, welche die Fünfzig gewiss überschritten hatte. Sie war stark geschminkt, aufreizend gekleidet, lachte schrill und machte auch durch ihren Tanzstil auf sich aufmerksam. Das geht mich nichts an, dachte ich und beachtete sie nicht weiter. Ich beteiligte mich auch nicht an den abfälligen Gesprächen über „Lady Tuschkasten“.
Eines Tages saß ich im Klubraum und spielte Schach. Früher war ich längere Zeit in einem Schachverein und hatte viele Partien gewonnen. Auch hier besiegte ich meine Gegner reihenweise. Um den Schachtisch herum saßen mehrere Männer und verfolgten die Partie. Da kam „Lady Tuschkasten“ hereingerauscht und fauchte: „Was machen Sie denn hier?“
Da niemand antwortete, sah ich zu ihr auf und sagte sachlich: „Wir spielen Schach“. Es hätte ja sein können, dass sie so etwas noch nie gesehen hatte.
Sie zischte mich voller Verachtung an: „Sie sind ja mannstoll!“ und zog hoch erhobenen Hauptes von dannen.
Das war 1975. Auch unter meinen Kolleginnen gab es welche, die der Meinung waren, es sei unanständig, wenn sich eine Frau in der Öffentlichkeit zu Männern an den Tisch setzt, um mit ihnen egal was zu spielen. So kam ich jedenfalls einmal in den Genuss, mannstoll zu sein, was auch immer das ist.
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 13:54:45