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Abbé

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© Irmgard Schöndorf Welch   
   
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Abbé


Samstags morgens schlenderte ich oft über den Frankfurter Trödelmarkt am Mainufer zwischen Eisernem - und Holbeinsteg.

Eines Tages fand ich in einem Karton unter alten Dokumenten und vergilbtem Schriftkram, der einst wichtig, jetzt aber sinnlos war, ein Couvert. Aus dem Couvert fielen mir zwei Schwarz-weiß-Fotografien entgegen. Es waren, mit blass-bräunlicher Patina überzogen, die Aufnahmen eines sehr jungen Mädchens in strengem, religiösem Habit, mit großen, dunklen Augen und Nonnenhaube um das schmale Gesicht. Mein Herz schlug schneller, meine Neugierde erwachte, weil im gleichen Couvert noch zwei zusammengefaltete, handbeschriebene Briefbögen steckten. Wer oft in verlassenen Sachen stöbert - und ich tat das professionell - erkennt augenblicklich das Wertvolle unter dem Plunder. Diese Bilder und Bögen waren nicht wertvoll, aber sie zogen mich magisch an.

- Mir war klar, hier hatte ich Fotos und Aufzeichnungen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Händen. Leider fehlte der obere Teil des einen Briefbogens. Er war anscheinend absichtlich weggeschnitten worden, sodass mir die ersten Sätze der Aufzeichnung unbekannt bleiben mussten. Neugierig begann ich die Sütterlinschrift zu lesen, mit der ich mich schon vor Jahren - auch dies aus beruflichen Gründen - vertraut gemacht hatte - :

...... „Nehmen Sie Ihren Mantel, kommen Sie mit, stellen Sie keine Fragen!“, sagte er, und legte seine Hand auf meine Schulter, ER, dessen bloßer Anblick mir Schauder der Erregung durch alle Adern jagte, der Mann, den ich lange schon aus der Ferne begehrte ... und fürchtete.
Niemand hätte je vermutet, dass er sich mir nähern würde, die ich so jung, unwichtig, mittellos ...
Ich wusste, er bedeutet viel in der Welt. Er wird von unzähligen Menschen verehrt, von anderen gehasst, von seinen Glaubensbrüdern nicht wirklich verstanden ...

Was er der Menge bedeutet, bewegt ihn nicht. Ich spüre es. Er ist sich selbst genug. Sein Geist ist ebenso mächtig, wie seine äußere Schönheit jeden Betrachter in ihren Bann zwingt.
Ich habe lange Zeit versucht, aus der Ferne seinen Gedanken zu folgen, seinen Gedanken und Vorstellungen, die weit über unser Land hinaus wahrgenommen und diskutiert werden ... Nein ich konnte ihnen nicht folgen. Mein Verstand, meine Bildung - so sehr ich mich auch bemühte - reicht nicht bis in seine Höhen hinauf.
Aber die Kraft seines Geistes würde nur halb so viel Anziehung auf Menschen in aller Welt ausüben, wenn er nicht so dunkel, geheimnisumwittert, rätselhaft wäre. Unerreichbar. Seine hoch aufragende Gestalt, die engen, nachtschwarzen, alle menschlichen Schwächen kühl durchschauenden Augen, in deren Grund stets eine düstere Flamme zu lodern scheint ......

- Hier war der Rest des Bogens glatt und sauber wie mit einer Schere, weggeschnitten. Schluss.
Es gab aber noch den zweiten Bogen. Ich las - :

...... Er sagte kein einziges Wort. Er war in mir und gleichzeitig hielt er mich wie mit eisernen Bändern gefesselt. Ich war hilflos. Ich war so unendlich klein und zierlich, verglichen mit seinem kraftvollen Körper, den ich überall an dem meinen, um den meinen geschlungen, gleichzeitig den meinen tief ausfüllend, wahrnahm. Ich war vollständig von ihm eingehüllt und durchdrungen. Er hatte mein ganzes Sein an sich gerissen und während ich vor Schmerz nicht aufhören konnte, zu schreien, war ich doch von unsagbarer Lust erfüllt. Er tat mir weh. Noch nie hatte mir ein Mann so weh getan. Doch der Schmerz war kostbar und es schien mir, als ob ich mich auflöste unter seinen erbarmungslosen Stößen. Er nahm abwechselnd Vagina und Anus in Besitz, mein Aufbäumen und Wehklagen fochten ihn nicht an. Er hielt mich umfasst, an sich gefesselt, er schien hundert Arme zu haben, die mich an seinen Körper banden. Jede einzelne seiner Zellen schien sich mit jeder der meinigen zu vereinen. Was machte er nur mit mir? Diese Wollust war mehr, als ich aushalten konnte. Ich fühlte ... ich würde gleich ohnmächtig werden. Hatte er mir, zusammen mit dem roten Wein beim Nachtmahl, eine Droge eingeflößt? Ich spürte mich eins werden mit ihm. Er hatte mich übernommen, nein, mich in sich aufgesogen, ich war plötzlich ein Teil von ihm, als ob er mich in sich integriert, mein Selbst ausgelöscht habe.
"Lassen Sie es geschehen", sagte er.
Da wusste ich: Er war ALLES. Meine Seele war in seiner Macht. Von nun an würde ich nie mehr nach Gott suchen müssen.

Ich erwachte auf dem fremden Bett, als die Sonne schon hoch im Mittag stand. Er war nicht da. Durch das offene Fenster hörte ich die Meereswellen rhythmisch ans Ufer schlagen. Auch drang Kiefergeruch vom nahen Wald herein.

Ich war in mein züchtiges Kleid gehüllt, die Knöpfe bis zum Hals zugeknöpft. Ja, ich trug wieder das weiße Kleid, mit dem ich zu ihm gekommen war ... er musste es mir angezogen haben, denn ich war nackt gewesen während der ganzen Nacht. Er musste mich auch mit der silberbestickten, roten Seidendecke zugedeckt haben, unter der ich nun lag. Das letzte, was ich von der Nacht erinnerte, war, dass er mich nackt auf seinen Armen zum Meer, zum Strand getragen ...

Kaum hatte ich Zeit, meine Gedanken halbwegs zusammenzufügen, als er schon ins Zimmer trat. Er kam zu meinem Bett, beugte sein Gesicht über mich. Auch er war vollständig angekleidet.
„Ich liebe dich, ich liebe dich“, stammelte ich und streckte die Arme begehrend nach ihm aus.
Da sprang mich sein Lächeln an, fremd, kalt, gleißend wie eine Klinge aus Stahl. Und doch glaubte ich für eine Sekunde Bedauern, auch Zuneigung in seinen Augen zu spüren. Er wandte sich zur Seite:
„Ich werde Sie jetzt verlassen“, sagte er und ging zur Tür.

Mit einem Sprung war ich aus dem Bett, warf mich zu Boden. Ich umklammerte seine Füße, küsste die Spitzen seiner Schuhe und Tränen brachen mir aus den Augen. Er hob mich behutsam auf und sah mich lange an. Sein Blick war ungerührt:
„Sie werden mich nicht kontaktieren, und Sie werden niemals einem Menschen von dieser Nacht erzählen. Ich verlange es", sagte er ... "jetzt lasse ich Sie allein. Wenn Sie ausgehbereit sein werden, läuten Sie die kleine Glocke da neben dem Bett. Ein Diener wird hereinkommen und sie dem Kutscher übergeben. Er wird sie nach Hause bringen. Fragen Sie nichts. Es wird Ihnen ohnehin niemand antworten."

Nun erst spürte ich, in welch außergewöhnlichem, ja entrücktem Zustand ich mich befand und wie mein Leib noch immer von seinem Liebemachen brannte, lohte, bebte. Ich wusste, dass ich für alle anderen Männer verloren war.

Zurückgekehrt in meine gewohnte Welt, stellte ich fest, dass mir mein früheres Tun und Lassen, die Freunde und Vertrauten, die alten Wünsche und Freuden nichts mehr bedeuteten. Immer spürte ich IHN in mir und um mich, war eingetaucht in seine Kraft, in seine Dunkelheit. Ich würde ihm gehören, auch wenn er mich niemals mehr seiner Nähe für würdig befinden sollte ...


Am 18. Mai 1888 trat ich ein in den Konvent unserer lieben Frau von ...

Auch der Rest dieses Bogens war fein säuberlich mit der Schere abgetrennt ...


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Copyright Irmgard Schöndorf Welch, den 29. Oktober 2006
 

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