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Die Stimme (Teil 1)

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58 Stimmen
   
© Karamba Karacho   
   
Das Radio stand kippelig auf dem Wäschetrockner. Lisa hatte es voll aufgedreht. Simba, ihr Kater lag zusammengerollt daneben. Ihn interessierte die Lautstärke nicht. Es lief gerade ein deutschsprachiges Lied. Lisa Michels hat gerne laute Musik bei der Arbeit, um ihre eigenen Gedanken zu übertönen. Heute hatte sie sich vorgenommen, den Keller zu entrümpeln. Bei diesem Stück sang sie mit.
- Ich bin hier- ich bin jetzt –Zack -das allein ist meine Schuld. Zack!-
Sie zog kraftvoll eine alte Kiste aus dem Schrank. Alles alter Krempel, kein Zweifel, und nur um das zu bestätigen, sah sie die Sachen noch durch, bevor sie diese in den Papiermüll werfen würde. Sie hatte schon vier volle Obstkisten zusammengetragen und wollte diese nach dem Mittagessen zur Mülldeponie bringen. Kellerschränke sind doch schließlich die Vorstufe der endgültigen Entsorgung? Sie wühlte in dem Inhalt der Kiste; alles Papier; eine Bedienungsanleitung für den Fernseher der schon vor 15 Jahren verschrottet wurde, ein Stapel alter Rätselhefte, uralte Bewerbungsunterlagen! Sich davon zu trennen fiel ihr wahrlich nicht schwer. Doch dann,
-Was ist das?-
Sie stieß auf einen alten Sammelhefter. Er war im DIN A 3 Format, dunkelblau, und ziemlich abgewetzt an den Ecken. Vorne drauf stand mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben: „Lisa Dirks, Klasse 8b“. Lisa atmete tief ein.
-Schnell weg damit! Aber mit wieviel Zeitaufwand ich diesen Schriftzug fabriziert haben musste?-
Von weit her drängten sich ihr Emotionen auf.
-Pah!-
Mit „Damals“ hatte sie doch längst abgeschlossen. Laut stimmte sie wieder an,
-Ich bin jetzt- ich bin frei...lalalalalala-,
und mit ein paar energischen Tanzschritten versuchte sie diesen Gedanken zu verstärken.
-Ich bin JETZT- Ich bin FREI!-Die Gegenwart ist gut, an ihr soll sich nichts ändern. Und ich fühle mich weder eingesperrt noch gefangen. Freiheit ? - Holt meine Vergangenheit mich gerade ein? Fängt sie mich ein-
Die langsam in ihr aufsteigenden Erinnerungen fühlten sich sonderbar an, sie spürte einen Knoten im Hals.
-Erst einmal hinsetzen. Wasser wäre nicht schlecht. Angst ist doch Blödsinn, den Quatsch habe ich mir als Kind doch nur eingebildet. Ich hatte einfach eine blühende Phantasie, das haben alle gesagt. Aber kann ich das hier einfach auf den Müll werfen? Ich konnte gut zeichnen!-
-ICH HATTE DICH VERLOREN-
-Welche Bilder sind da drin? Was denn verloren? Mist, ich wollte ich hätte diesen Hefter längst entsorgt, dann müsste ich mich jetzt nicht mehr mit Altlasten rumärgern.-
-LIHI-
Lisas Herz begann zu rasen.
-Die Haustür schepperte. Das war charakteristisch für Carla. Rumms!!! Jetzt galt es die Fassung nicht zu verlieren, vor ihrer Tochter musste sie stark sein.Um sich schnell wieder in die Gegenwart zurückzubeamen, richtete sie sich auf und rieb sich das Gesicht.
"Mama?! Maaaama!"
Hastig zog sie den Stecker des Radios aus der Steckdose.
-Ruhe jetzt. Meine Tochter ist da!-
Lisa hörte deutlich das Geräusch eines temperamentvoll in die Ecke geworfenen Tornisters,und ging die Treppe hinauf in den Flur.
"Hallo Krümel, ich war im Keller, und wo warst du?"
"Na, in der Schule!"
Lisa ging zu ihr. Carla nestelte an ihrem Anorak. Sie musste aufs Klo, und strahlte wie immer. Beim Anblick ihrer Tochter musste auch Lisa lächeln. Ja, sie würde ihre Haltung bewahren können.
"Hallo meine Liebe, wie war`s denn in der Schule?"
Sie half ihr beim Ausziehen.
"Gut! Wir haben Kekse gebacken, einer ist für dich"
Als sich das Mädchen aus ihrer Jacke gewunden hatte, ließ sie ihre Mutter damit stehen und stapfte Richtung Toilette, jedoch nicht ohne weiterzuerzählen.
"Und Frau Jahn hat gesagt, das ist ein Scherzkeks, weil da sind Ohren dran..."
Lisa hing die Jacke an die Garderobe, hob den Tornister auf und konnte dem Wortschwall ihrer Tochter, durch die geschlossene Badezimmertür nicht weiter folgen. Sie schloß ihre Augen.
-SIE IST WIE DU-
War das ihr Gedanke? Lisa wurde nervös. Leise fing sie an den eben gehörten Refrain zu singen.
"Ich bin Jetzt ich bin Hier. Und was waaar ist längst vorbei. Ich bin frei!"
Sie atmete tief ein. Dann wandte sie sich zur Tür.
"Carlamaus, erzähl es mir gleich beim Essen, dann kann ich dich besser verstehen!"
Wenig später präsentierte Carla stolz ihren selbstgebackenen Schokoladenkeks. Lisa hielt die Luft an, denn was sie sah war eine schokoladegewordene Skulptur.
-Ich kann,... ich darf sie dafür nicht loben, -sonst,- es ist zu riskant!-
Lisa fiel es schwer die passenden Worte zu finden. Sie einigten sich darauf, ihn festlich zum Nachtisch zuverspeisen. Doch vorher gab es Fischstäbchen mit Pommes und Ketchup. Lisa war im Augenblick froh, sich mit ihrer Tochter über Pferde unterhalten zu können. Pferde waren sicher. -Schokoladenskulpturen oder Katzenfuttermosaike hingegen waren riskant! Sie konzentrierte sich sehr auf diese Unterhaltung, denn sie wollte pädagogisch alles richtig machen, also ihrer Tochter gut zuhören und so, sie bestätigen, und ihr beiläufig im Umgang mit Messer und Gabel helfen. Der Keks lag auf dem Tisch und Lisa sah ihn sich voller Sorge an.
-Er hat nicht irgendein Gesicht, er hat liebevoll anmodelierte Ohren, Nase und Mund. Sie hat sich viel Mühe gegeben und viel Zeit investiert. Ich kann es direkt nachvollziehen!-
"...und dann habe ich noch eine Teigkugel genommen und die daobendraufgemacht, und plötzlich war da die Nase...!"
"Das hast du wirklich schön gemacht."
-SIE GLEICHT DIR-
-Sie ist meine Tochter! Natürlich ähnelt sie mir! Was soll das?-
Lisa war der Appetit vergangen, trotzdem wollte sie schnell den Keks aufessen, damit er vom Tisch war. Schnell räumte sie die Teller ab, bevor sich Carla noch dazu entschließen würde den Keks doch lieber aufzubewahren.
-LILI-
Gereizt brach sie den Keks durch. Karla schaute sie entsetzt, mit aufgerissenen Augen an.
"Hm..."schmatzte Lisa,"...einfach köstlich,Carla!"
"Mama, den musst du aber genießen!"
-JA, ISS DEN KEKS, MACH DIR WAS VOR, WIRF DEINE BILDER WEG. ABER,ICH BIN WIEDER DA!-
 

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