... für Leser und Schreiber.  

Der Baum

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©  Kia   
   
In meiner Kindheit, als mir der erste Gedanke bewusst wurde, habe ich einen Baum gesät, den Baum der Träume. Ich setzte ihn aus Trauer und Hoffnung, tief in das Erdreich hinein. Dort wuchs und gedieh er, stets genährt durch meine Fantasie, die ihn jeden Sommer zum blühen brachte.
Wenn es regnete, konnte ich mich unter seinen vielen Ästen unterstellen und hatte ich Angst, dann versteckte ich mich hinter seinem immer dicker werdenden Stamm. Auch wenn die Sonne vom Himmel zu sehr auf mich nieder brannte, dann konnte ich in seinem Schatten verweilen.
Als Kind reichte ich nicht an seine Äste heran. Ich konnte seine bezaubernden Blüten immer nur von unten betrachten. Egal wie sehr ich versuchte meine Arme zu strecken, sie schafften es nicht einmal die Rinde zu berühren.
Dann kam eine Zeit, die von Stürmen durchzogen war. Der Baum musste harten, schwankenden Witterungen trotzen und meine Besuche wurden immer seltener. Durch Springen konnte ich an einigen Stellen seine Äste ganz leicht berühren, aber sie nicht umfassen oder runterziehen. Sie waren so nah und doch so fern.
Die Winde haben sich nicht gelegt, doch nach einiger Zeit besuchte ich meinem Baum wieder häufiger. Nun sehe ich ihn jeden Tag und in diesem Jahr tragen wenige Äste zum ersten Mal Früchte. Meine Arme reichen an drei Äste heran und ich kann dessen Früchte ernten. Sie schmecken süß, sie tun mir gut.
Der Baum und ich, wir werden weiter wachsen und ich werde nicht aufhören, nach seinen Ästen zu greifen, denn das ist es, was mich lebendig macht. Und selbst wenn ich es nicht schaffe, alle Äste in den Händen zu halten, dann habe ich sie wenigstens gesehen, dann habe ich es wenigstens versucht.
 

http://www.webstories.cc 09.05.2024 - 04:58:16