... für Leser und Schreiber.  

genug?

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© Sabine    
   
Sie sitzen einander gegenüber, in seinem alten Fiat, dessen Heizung defekt ist, und sehen zu, wie vereinzelte Schneeflocken lautlos zu Boden sinken.
Ihnen ist kalt, trotz der dicken Wollmützen, die beide tragen.
Er umfasst ihr von der Kälte gerötetes Gesicht mit beiden Händen und sieht sie schweigend an.
Sie weiß, dass er sie liebt, sie sieht es in seinen Augen, in diesen unergründlich blauen Augen, die immer ein wenig Traurigkeit wiederspiegeln.
Langsam streicht er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr, welche sich unter der Wollmütze hervorgestohlen hat.
Sie liebt seine Art zu lächeln, und die Art wie er sie ansieht, sie liebt es mit ihm zu reden, oder einfach schweigend durch die Strassen zu gehen wenn Worte überflüssig sind.
Aber ist es genug? Ist diese Liebe zu ihm genug, um das Risiko einzugehen, ihn an ihrem Leben teilhaben zu lassen und ihm zu vertrauen, selbst auf die Gefahr hin verletzt zu werden?
Seine Stimme, die leise Ihren Namen flüstert holt sie von ihrer Gedankenwelt zurück in die Realität.
Seine Augen spiegeln Angst wieder, die Angst davor zurück gewiesen zu werden, die Angst davor, dass sie sagen könnte, dass sie ihn nicht so sehr liebt wie er sie.

Sie weiss nicht, wie lange sie schon so da sitzen, als sein Gesicht dem ihren immer näher kommt und er sie mit solch einer Zärtlichkeit küsst, wie sie es noch nie zuvor erlebte.


Stimmen um sie herum reißen sie aus ihren Gedanken und ihr wird wieder schmerzhaft bewusst, wo sie sich befindet.
Ein Arm legt sich schützend um sie und dankbar schmiegt sie sich in den ihr dargebotenen Arm.
Sie weiß jetzt, dass ihre Liebe zu ihm genug ist, dass sie bereit ist, ihm bedingungslos zu vertrauen und sie weiß, dass sie ihr Leben mit ihm verbringen will.
Bei diesen Gedanken durchfährt sie ein unbeschreiblicher Schmerz, der mit Worten kaum zu beschreiben ist, und gleichzeitig empfindet sie eine eisige Leere, die sie umhüllt wie ein undurchdringbarer Nebel.
Sie löst sich aus dem Arm ihres Bruders und geht wie in Trance ein paar Schritte nach vorne, dabei löst sich ihr lose umgelegtes Schulterduch und fällt lautlos zu Boden, sie merkt es, aber es ist ihr egal, so wie ihr alles, was um sie herum geschieht, egal ist.
Nun steht sie da, mit einer Rose in der Hand, und sieht zu wie der schön verzierte, aus hellem Holz gemachte Sarg langsam in das dafür ausgehobene Loch gelassen wird.
Ein letzter Blick nach unten, sie lässt die Rose fallen und flüstert "ja, meine Liebe wäre genug gewesen" .
 

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