... für Leser und Schreiber.  

Innerlich tot...

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© Alexiel Alexiel   
   
Jetzt ging es ihr gut. Einigermaßen.

Mit acht Jahren verlor sie beide Eltern. Der junge Autofahrer, der den Unfall verursacht hatte, meinte wohl ein bisschen Alkohol würde seine Aufmerksamkeit im Straßenverkehr nicht beeinträchtigen. Doch er hatte falsch gedacht. Im Krankenhaus starben eine Frau und ein Mann an starken inneren Blutungen und einigen Knochenbrüchen. Die Rede war von ihren Eltern.
Nach der Beerdigung ging alles ziemlich schnell. Ihrem drei Jahre jüngeren Bruder und ihr wurden mitfühlende Blicke zugeworfen. Mit acht war sie klug genug, um zu verstehen, dass sich ihr Leben von nun an für immer ändern würde.

Die beiden Geschwister kamen zu den Großeltern. Oma und Opa hat sie nie besonders gut leiden können, doch hatte sie eine andere Wahl?
Dem 5-jährigen Bruder erzählte man, ihre Eltern seien jetzt an einem besseren Ort, das Übliche eben. Ihr versuchte man die gleiche Geschichte weiszumachen, doch dem wollte sie nie wirklich Glauben schenken. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Eltern ohne ihre Kinder, tatsächlich an einem besseren Ort sein konnten.
Wie auch immer. Die Jahre vergingen und das Leben ging weiter. Ihr kleiner Bruder kam in die Schule. Mindestens einmal im Monat, wurde er von Mitschülern verprügelt. Der Grund, war seine introvertierte Art. Anscheinend störte diese, ein paar Kinder gewaltig. Doch konnte man das einem Jungen, der mit fünf seine Eltern verlor und nun bei senilen Großeltern aufwuchs, wirklich verübeln?

Es war ein verschneiter Sonntagmorgen. Das nun fünfzehn Jahre alte Mädchen ging mit schläfrigem Blick ins Badezimmer. Sie machte die Tür auf und blieb abrupt stehen. Was sie zu sehen bekam, wollte ihr nicht in den Kopf. Nach mehreren Versuchen wach zu werden, sah sie schließlich ein, dass dies hier kein Traum war. Ihr geliebter, kleiner Bruder lag neben der Badewanne, ein Arm in Richtung Fenster ausgestreckt, der andere ruhte auf seinem Bauch. Blutverschmiert am Handgelenk. Die Augen waren geschlossen, ein Zeichen, dass er bereits tot sein musste. Nicht fähig auch nur einen Laut von sich zu geben, kniete sie sich neben ihn und ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken…

Es waren drei Jahre vergangen, seit sie sich von ihrem Bruder verabschiedet hatte. Heute war der letzte Tag ihrer Therapie. Ihre Großeltern befanden es, nach dem Suizid ihres Bruders, für nötig, sie zu einem Psychologen zu schicken. Ihr war das egal. Niemand konnte ihr helfen. Niemand konnte verstehen, wie es ist Mutter, Vater und Bruder zu verlieren. Sollte es dieser Psychologe doch versuchen, er würde ja doch scheitern.
Aber es kam, wie es nicht kommen sollte. Sie verliebte sich in den 35-jährigen Arzt, soweit sie beurteilen konnte, was „Liebe“ ist. Er war ein gutaussehender Mann, mit einem englischen Akzent. Und er war verheiratet. Sie hieß Claudette. Claudette. Was war das für ein Name? Es klang wie „Klo“. Sie hasste diese Frau. Diese Frau mit ihren langen, braunen Haaren und diesem Dauergrinser im Gesicht. Sie hasste es wie ihr Psychologe diese Frau ansah und sie hasste sich selbst dafür.


Claudette war tot. Dreiundzwanzig Messerstiche sollten genügen, ihr diesen verliebten Blick – wenn sie den Mann den sie liebte ansah – aus dem Gesicht zu jagen. Das Mädchen, das man für komisch hielt und mit mitleidigen Blicken bewarf, das Mädchen, das so jung zur Waisen wurde, dieses Mädchen existierte nicht mehr. Es hielt nun ein Messer in der Hand und tötete die Frau ihres „Seelenklempners“.
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Das Herz stirbt einen langsamen Tod. Und ehe man sich versieht, ist man einer dieser emotionslosen Menschen geworden, denen nichts mehr geblieben ist, außer ihrem Stolz. Doch nicht die Fähigkeit zu lieben, nur der gewöhnliche Respekt den man anderen Menschen gegenüber aufbringt…
 

http://www.webstories.cc 28.04.2024 - 19:24:15