... für Leser und Schreiber.  

In den Regen

172
172 Stimmen
   
© Chrstian Hoja   
   
„Sieh mich an, Remar. Lass mich raus in den Regen. Remar? Hörst du mich?“
Remar nickte. Sein zerschlissenes Gesicht entspannte sich ein wenig, die geschwollenen Lider lösten sich aus ihrer Verankerung, seine fahlen, nur millimeterbreiten Lippen zuckten.
„Lass mich jetzt gehen. Du musst.“
„Nein“, wisperte er.
„Es ist in Ordnung“, sagte sie lindernd. „Lass mich nur los. Wie etwas, dass du nicht mehr brauchst, Remar.“
„Aber ich brauche dich. Ich würde nie wieder etwas brauchen, wenn du nur bleiben würdest. Oder ich wüsste, dass du zu mir zurückkommst.“
„Das kann ich nicht. Du wirst mir folgen, eines Tages. Sie werden dich retten, Remar. Du wirst lernen, dass es ohne mich geht. Das du ohne mich gehst.“
„Warum retten sie nicht uns beide?“
„Sie werden es nicht schaffen.“
„Wo sind sie?“
„Sie werden kommen, Remar. Später. Jetzt noch nicht. Und sie werden dich nur retten können, wenn du mich los gelassen hast.“
Remars Schädel barst vor Schmerzen, als er sie fester an sich drückte, so fest er konnte drückte, und sich dafür hasste, dass es nicht fest genug sein würde. Er presste ihr Kinn gegen seine Schulter, als wolle er sie darin versenken, ihre Worte ersticken. Sie widerstand ihm mit einer Kraft, von der er nicht wusste, woher sie sie nahm, reckte ihren Kopf in die Höhe und ihren Mund an sein Ohr, infizierte seinen Gehörgang mit einem Parasit der Gewissheit, nein, sie selbst war diese Gewissheit.
„Du musst mich einfach los lassen, Remar.“
Er flocht seine Finger zwischen ihr feuchtes Haar. „Nein“, drang es durch seine einander zermalmenden Zähne. „Nein. Nein.“ Er fühlte eine Wunde an ihrem Hinterkopf und lockerte seinen Griff, sich fragend, ob sie diesen einen kleinen Schmerzimpuls weniger überhaupt zu bemerken imstande war. Er wollte sich nicht vorstellen, dass sie es nicht war. Sie wäre verloren. Fort, noch bevor er es zulassen konnte. „Nein.“
Ihre Lippen küssten sein Ohrläppchen. Die zarte Berührung brannte, als sei sie Salz auf rohem Fleisch.
„Ich zwinge dich nicht, Remar, und ich verlange es nicht von dir. Ich bitte dich. Dein Schmerz wird später nur größer sein, tust du es nicht. Sie werden unternehmen, was nötig ist, um dich zu retten. Und hast du mich bis dahin nicht losgelassen wird es später unerträglich für dich werden, wenn sie dir sagen, was sie tun mussten, um dich zu retten. Remar. Lass – mich - los.“
„Nein. Ich werde uns beide loslassen.“
„Das kannst du nicht. Es muss einen Grund geben, dass du mich loslässt. Dieser Grund ist dein Leben. Dein Überleben.“
Remar riss die Hand von ihrem Kopf los und seine geballte Faust schlug gegen die geborstenen Reste der Fensterscheibe, Splitter prasselten auf sie nieder und er hielt den Schrei, der seine Lunge verschnürt hatte, nicht länger zurück. Er platzte aus ihm und das Wrack vibrierte so heftig, dass Remar ahnte, dass es sein letztes, sinnloses Aufbäumen war. „NEIN.“
Sie wartete. Bis die Vibration abgeklungen, sein letzter Widerstand versiegt war. „Du wirst lernen, Remar. Sie werden dir helfen. Sie werden dir helfen, mich durch etwas anderes zu ersetzen. Mit dem du deinen Weg weitergehen, ihn vollenden kannst. Versteh doch, Remar. Du wirst nur gehen, wenn du mich gehen lässt.“
Remar zitterte. Presste sich die Handballen gegen die Schläfen. Gönnte sich nur einen Augenblick des Zurückschauens, nicht mehr als einen Tropfen der Erinnerung. Um dann nach vorne zu sehen. Ja, dachte er. Endlich. Nichts weiter. Keinen Gedanken sonst. Und plötzlich wurde sein Körper still, lag ruhig und geborgen. Vollendete es. Und als Remar losließ, sie aus seinen Fingern glitt, in die kalte, verregnete Nacht hinausstürzte, aus der sie aufgetaucht war und mit sich nahm, von was er sich trennen musste, hörte er von weitem eine Stimme rufen.
„Hallo? Ist dort noch jemand am Leben?“
„Ja“, sagte Remar.

„Herr Remar Besquist?“
„Ja.“
„Mein Name ist Glockkamm. Ich bin Chirurg. Sie wurden gestern Nacht aus einem abgestürzten Autowrack geborgen. Sie standen unter schwerem Schock. Wir konnten sie stabilisieren. Aber leider… mussten wir ihnen schon am Unfallort ihr linkes Bein abnehmen. Es tut mir Leid. Sie wären sonst dort gestorben. Das Bein war zerquetscht. Sie hätten nie wieder damit gehen können.“
Remar schlug die Augen auf. „Ja. Ich weiß“, sagte er. „Ich hatte längst losgelassen.“ Er lächelte schwach.
 

http://www.webstories.cc 19.05.2024 - 16:52:50