... für Leser und Schreiber.  

Ich wollte doch nur, dass die anderen mich mögen

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© Homo Faber   
   
Die einen machten sich über sie lustig, die anderen gingen ihr bewusst aus dem Weg, und noch manch anderer sah sie einfach nicht. Das war sie, die Tanja, eine Mischung aus Dorftrottelin und grauer Maus, ein zukünftiges Mauerblümchen.

Sie war nicht besonders hübsch, ein wenig pummelig, viele Sommersprossen und rotblonde Haare, nicht gerade der Schwarm der Jungs ihrer Klasse, die inzwischen in das Alter gekommen waren, wo sie sich für Mädchen interessierten. Und für die Mädchen in ihrer Klasse war sie zu langweilig oder gar peinlich. Meist stand sie in der Pause auf dem Schulhof allein, stand einfach nur da, lachte nicht und weinte nicht. Nur hin und wieder gesellten sich andere zu ihr, um sie zu ärgern. Nicht selten kam es vor, dass sie mal dem einen oder anderen Ball vor den Kopf bekam, wenn die Jungs Fußball spielten. Natürlich aus Versehen.

Eltern und Lehrer waren besorgt um sie, da sie auch außerhalb der Schule keine Freunde hatte. An Elternsprechtagen war das immer das Hauptthema, über das ihre Eltern und Lehrer sprachen. Eigentlich war es sogar das einzige Thema, über die Schulleistungen gab es nichts zu besprechen, denn Tanja war eine ausgezeichnete Schülerin. Das Lernen fiel ihr noch nie besonders schwer, sie brauchte sich nicht einmal anstrengen, außer im Sportunterricht brachte sie nur 1en und 2en mit nach Hause. Bis zu jenem Tag.

„Denkt bitte daran, dass ihr alle eure Taschenrechner mitbringt, sonst könnt ihr die Aufgaben nicht lösen“, hatte der Lehrer einen Tag vor der Mathearbeit extra noch dran erinnert. Doch Jacqueline hatte ihren vergessen, sie hatte den ganzen Morgen gebraucht, um ihr Schminkzeug zusammen zu suchen, anstatt ihre Schultasche richtig zu packen.
„Oh Shit“, ertönt es aus ihrem Mund als ihr zwei Minuten vor Stundenbeginn auffiel, was sie vergessen hatte. „Hat noch jemand einen Taschenrechner?“, fragte sie panisch. Christopher hatte noch einen zweiten, doch bevor er etwas sagen konnte, gab Tanja ihr ihren.
„Hier nimm meinen, ich habe zwei“, sagte sie, obwohl sie nur diesen hatte.
„Danke“, meinte Jacqueline immerhin.

„Hast du keinen Taschenrechner?“, fragte der Lehrer, als er sah, wie Tanja mit Nebenrechnungen versuchte, die Aufgaben zu lösen. Tanja schüttelte verschämt den Kopf.
„Ich hab doch extra gesagt, dass ihr die braucht.“
„Hab ich vergessen“, antwortet Tanja leise.
„Hat noch jemand einen zweiten Taschenrechner, den er Tanja leihen kann?“, fragte der Lehrer in die Klasse. Jacqueline drehte sich mit verwirrtem Blick um, hatte sie doch gerade Tanjas angeblich zweiten Taschenrechner bekommen, dann grinste sie nur blöd. Dachte aber keineswegs daran, den Sachverhalt richtig zu stellen. Christopher der einen zweiten mit hatte, schüttelte nur mit dem Kopf.
Natürlich konnte Tanja so die Arbeit nicht lösen, bekam insgesamt zwar noch gerade eine 4, da es für die Ansätze noch Punkte gab, aber unter normalen Umständen hätte sie ohne Probleme eine 1 bekommen. Aber das konnte ja mal passieren, hatten Eltern und Lehrer gesagt, man kann schon mal was vergessen und wer nur gute Noten hat, kann sich so was auch mal erlauben.

Aber es blieb leider kein Einzelfall, ab diesem Tag führte Tanja ständig solche „Heldentaten“ durch. Gab im Kunstunterricht ihre Arbeitsmaterialien ab, wenn jemand sie vergessen hatte, so dass sie selbst nicht arbeiten konnte. Schrieb für andere Spickzettel wurde dabei erwischt, nahm die Schuld auf sich und so weiter und so weiter. Ihre Noten verschlechterten sich zunehmend. Den Lehrern kam es mehr als nur seltsam vor, dass sie sich so verschlechtert hatte und irgendwann fiel ihnen auch auf, woran es lag.
„Dein nächstes Zeugnis wird wahrscheinlich so schlecht sein, dass wir dich nicht versetzen können“, stellte ihr Klassenlehrer sie schließlich zur Rede. „Warum hast du all das gemacht?“
„Ich wollte doch nur, dass die anderen mich mögen“, antwortete Tanja schließlich und begann zu weinen.
 

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