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Point Hope - Teil 9 und Ende

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© Pia Dublin   
   
Kapitel 4 - Alaska
Nick Reining verbrachte die letzten Wochen in Point Hope als Privatmann, schickte die restliche Ausrüstung zurück nach Atlanta und die drängenden Fragen, die sein Boss ihm stellte, beantwortete er so ausweichend wie möglich.
Als man ihn auf eine Aussage festnagelte, was jetzt mit ihm los sei und wann er wieder zurückkommen würde, sagte er einfach, er nähme Urlaub für die nächsten Wochen und nachdem er in den letzten Jahren regelmäßig aus seinem Urlaub zurückgerufen worden war, nahm er sich nur das, was ihm zustand. Er sagte das sehr höflich und mit dem nötigen Respekt und wusste, dass er damit durchkam. Sie würden ihn für verrückt erklären, ohne Frage, aber er zog es vor, Ian in Alaska beizustehen, als irgendwo in der Sonne herumzuliegen und Schirmchen aus Cocktaildrinks zu sammeln.
Er hauste weiterhin in Ians Hütte, stand oft im Garten, in dem das erste grün aus dem Boden spross und starrte dort sehr lange auf eine Stelle, wo der Zwinger gestanden hatte. Etwas kam ihm seltsam vor.
Carla fing sich langsam wieder, unterrichtete die Kinder und fand Ablenkung von dem Gedanken, was mit Ian sein mochte und weshalb er sich nicht bei ihr meldete. Ihr Warten wurde belohnt; einer der Jugendlichen aus dem Tlingitdorf brachte ihr einen Brief, verschwand wieder, bevor sie ihm Fragen stellen konnte. Sie weinte vor Erleichterung, als sie Ians Schrift erkannte, um den Inhalt des Briefes zu verstehen, musste sie ihn zweimal lesen und musste sich dabei noch zwingen, nicht ständig die Zeilen zu überspringen. Sie gab Nick den Brief und sagte: „Ich werde Albie sagen, dass er mich hinbringen soll.“
„Dann komme ich mit.“
Dieser Brief war halb Hilferuf, halb Erklärungsversuch und glücklicherweise klang er nüchtern und vernünftig, sollte er den Brief selbst formuliert haben.
„Wir werden ihm helfen“, sagte Nick, „was immer mit ihm los ist, wir sind diejenigen, die ihm wirklich helfen können.“
„Redest du als FBI Mann?“
„Ich rede als alter Freund, weil es das ist, was er jetzt braucht. Als Bundesbehörde hätte ich hier nichts mehr zu suchen. Gehen wir gleich rüber zu Albie. Wir sollten keine Zeit verlieren.“
Albie war nicht in seiner Hütte, aber sie fanden ihn schnell im Hydes, wo er ein Bier trank und sie bei seinem Anblick hofften, dass es sein erstes wäre. Er ließ es sich in aller Ruhe erklären, was passiert war und nippte dabei weiter an seinem Bier, was Nick Reining deutlich nervös werden ließ. Carla flüsterte ihm zu, dass er sich deswegen keine Gedanken machen brauche – Albie sei sowohl nüchtern als auch betrunken ein zuverlässiger Fahrer auf dem Eis und die Strecke zu Georges Clan fände er jederzeit.

Bei den Tlingits wurden sie freundlich empfangen, so wie bei jedem Besuch waren sie sofort umringt von neugierigen kleinen Kindern, die aber schnell von den Frauen verscheucht wurden. Sie wollten von Carla den neuesten Klatsch aus Point Hope hören und sie bekam kleine Zettelchen mit Bestellungen für die Hydes zugesteckt. Carla bemühte sich redlich, die Fragen zu beantworten und höflich zu bleiben, aber ihre Nerven lagen blank, weil sie auf die Fragen, wo Ian war, nur zu hören bekam, dass es Zeit bis später habe. Sie konnte nicht drängeln, weil das unhöflich gewesen wäre und gleichzeitig wurde ihr klar, dass se nicht das dümmste war, die Sache etwas langsamer angehen zu lassen, so hatte sie wenigstens noch Zeit, sich Gedanken zu machen, wie sie Ian gegenübertreten sollte nach seinem seltsamen Brief. Albie hatte sich direkt nach ihrer Ankunft abgesetzt, um in einer langatmigen und behäbigen Art mit einer der Frauen zu sprechen, mit denen er sich ohne Probleme in der Sprache der Tlingits verständigen konnte. Der Onkel der Frau gesellte sich zu ihnen, stand stumm dabei und hörte ihnen andächtig zu, als ginge es in der Unterhaltung um so etwas wichtiges wie den Weltfrieden oder die Fischfangquoten, aber es war eher zu vermuten, dass er nur auf seine noch immer unverheiratete Nicht aufpassen wollte.
Tumas Vater rief sie ins Gemeindehaus, und Carlas herz begann zu rasen; ohne sich dessen richtig bewusst zu werden, griff sie haltsuchend nach Nicks Arm, der ihr unter den Ellebogen griff und ihr zuflüsterte, dass sie sich keine Gedanken machen solle, Ian habe mit Sicherheit noch seine Sinne beisammen, führte man sich noch mal den Brief vor Augen. Sie nickte, drehte sich zu Albie Newton herum, der noch immer die Frau an seiner Seite hatte, und sich für nichts anderes interessierte.
Im Gemeindehaus, das gut geheizt war, konnten sie sich der schweren Jacken entledigen, George Koonook erwartete sie bereits. Er saß wie eines seiner Totems auf seinem verzierten Hochstuhl, unbeweglich und ernst, ganz so, wie er Nick Reining vor Wochen wegen der Befragung empfangen hatte. Man ließ sie mit ihm allein. Auch Albie wurde nach draußen gebeten.
Sie warteten, bis George den Anfang machte, das stand ihm zu und obwohl er nicht viel von sich gab, konnte er sie beruhigen in Bezug auf Ian.
„Ich hätte euch nicht herkommen lassen, aber Ian hat darauf bestanden und es war allein seine Entscheidung. Er hat sich hier bei uns zurückgezogen, die meiste Zeit habe ich mit ihm verbracht und wir haben über alles geredet. Ich weiß nicht, was er vor hat, aber er hat mich gebeten dabei zu bleiben.“
„Weshalb hat er sich hier hin geflüchtet?“ Carla stellte diese Frage, aber für Nick war es klar, weshalb Ian abgehauen war und zunächst niemanden hatte sehen wollen. Die Eiswüste, in die er sich geflüchtet hatte, brachte seinen Verstand auf einen ruhigen Punkt zurück; genügend Ruhe, um über alles nachdenken zu können.
„Es war der einzige Ort, an den er gehen konnte.“
Es lag Carla auf der Zunge, darauf zu antworten, dass er auch zu ihr hätte flüchten können, aber sie bewahrte sich selbst vor diesem Schnellschuss, da sie wusste, wie sie Ian in dieser Situation belagert und ausgefragt hätte.
Ich würde ihn gern sehen, dachte sie, ich muss wissen, ob es ihm gut geht und was ich für ihn tun kann. Irgendetwas muss ich für ihn tun.
Als Gäste der Tlingits wurden sie zum essen eingeladen, Nick Reining kaute nur aus lauter Höflichkeit auf einem Fleischstreifen herum, der in seinem Mund einen tranigen Nachgeschmack hinterließ und der sich auch mit Pepsi nicht wegspülen ließ.
Das ist der ultimative Pepsi-Test, dachte er, schafft es Pepsi, den Walrossgeschmack fortzuspülen?
George Koonook war kein Mann der lockeren Herumplauderei, es entstand eine längere Pause, in der sie alle ihren Gedanken nachhingen, auf den stetigen Wind horchten, der um die Hütte brauste. Die Uhren tickten in Point Hope schon langsam, aber in dem Dorf der Tlingits schienen sie fast stillzustehen und was Nick Reining vor Monaten noch mit quälender Langeweile in Verbindung gebracht hätte, empfand er nun als so etwas wie Meditation. Es mochte gar nicht dumm sein, etwas länger über etwas nachzudenken, bevor man damit herausposaunte. Trotzdem gab es auch bei den Tlingits seine Zeit für alles und George mochte eine perfekt gestellte innere Uhr haben, denn er erhob sich von seinem Eskimohäuptlingsstuhl und sie folgten ihm wieder nach draußen bis vor einen der Iglus.
„Ian wartet in meinem Iglu“, sagte George, „aber er möchte zunächst nur mit dir sprechen, Nick Reining. Du kannst zu ihm reingehen, aber mach dir keine Gedanken darüber, dass er sich äußerlich verändert hat.“
„Was hat er an sich gemacht?“ fragte Carla sofort, die irgendeine fatale Verstümmelung vor Augen hatte, die er sich in seiner Verzweiflung beigebracht haben mochte.
George trat zur Seite, machte eine auffordernde Handbewegung zu Nick, der sich bückte und ganz klein machte und in den Iglu kroch.
„Bei einem Ritual hat er sich die Haare abgeschnitten.“
Nick steckte in dem engen Durchgang und hörte nur undeutlich, dass Ian sich eine neue Frisur verpasst hatte, schob sich auf den Knien Schrittchen für Schrittchen nach vorn, bis er wieder freien Raum um sich hatte. Es war dämmrig im Inneren des Iglus und nur halb so kalt, wie er erwartet hatte, die Wände bestanden aus perfekt zurechtgeschnittenen Eisblöcken und bis auf ein Bett aus dicken Lagen Seehund- und Eisbärfellen war der Raum leer. Ian saß auf dem Bündel Felle, hatte sich in ihnen eingepackt und nur sein neuer nackter Schädel sah heraus, er hielt das Gesicht gesenkt. Nick setzte sich neben ihn, pustete seinen warmen Atem in die Luft, tat das, was er in Point Hope gelernt hatte und woran er immer mehr Gefallen fand, weil es ihm eine innere Ruhe verschaffte.
Er konnte ganz ruhig dasitzen, kein Wort sagen und geduldig darauf warten, dass Ian den Mund aufmachte.
„Ich muss bei dieser Sache ganz vorn anfangen“, sagte Ian, ohne aus den Tierhäuten hervorzukommen, „dabei weiß ich nicht mal, ob ich dir das alles erklären kann. Im Moment fühle ich mich noch immer, als hätte ich mit alldem nichts zu tun, obwohl ich weiß, dass es so ist.“
„Wir machen uns Sorgen um dich, Ian, trotz allem halten wir aber zu dir, ganz egal, was los ist.“
„Das hilft mir nicht besonders.“ Ians Stimme war so normal wie sie nur sein konnte, was Nick Reining beruhigt zur Kenntnis nahm, obwohl er wusste, dass das nicht alles sein konnte; Ian mochte sich ruhig und gefasst anhören und trotzdem vollkommen von der Rolle sein.
„Du kannst mir alles erzählen, ich bin auf deiner Seite.“
„Das solltest du dir noch mal überlegen, wenn du gehört hast, was ich zu sagen habe.“
Endlich befreite Ian sich aus den dicken Fellen, sein kahler Schädel war übersät mit verheilenden kleinen Schnittverletzungen, als habe er ein unpassendes Messer für seine Rasur benutzt, gleichzeitig war sein Gesicht unrasiert, seine gesunde Gesichtsfarbe verschwunden. Seine Gedanken waren abgetaucht in die Vergangenheit, als der er sich nur schwer wieder herausgaben konnte, um endlich seine Geschichte zu erzählen. Er sagte, Nick solle sich alles anhören und versuchen, ihn nicht zu unterbrechen, es sei schon so schwer genug. Nick Reining hob zwei Finger zum Schwur und endlich begann Ian mit der Geschichte, damit beginnend, dass er seinem Vater auf der Farm in Stockton geholfen hatte, die toten Frauen zu begraben und dass er mit diesen Schuldgefühle und Erinnerungen immer allein gewesen war, ganz gleich, wie sehr die McFaddens ihm auch geholfen hatten. Er sagte, in gewisser Hinsicht habe es sich einfach wiederholt und obwohl Nick versprochen hatte, einfach nur zuzuhören, warf er sehr ruhig ein: „Neben der Stelle, wo der Zwinger gestanden hat, hab ich einen Hundekadaver gefunden. Ich habe ihn nicht ausgegraben, nur so weit freigekratzt, dass ich ihn als Hund erkennen konnte. Du hast ihn dort vergraben, nicht wahr? Das war Duke.“

In dieser fürchterlich stürmischen Nacht, die Monate anzudauern schien, dass die Stimmung bei den meisten auf dem Nullpunkt war, kletterte Duke wie eine Katze über den Zaun des Zwingers, machte dabei so viel Krach, dass Ian aufwachte, sich anzog und nach draußen stampfte. Die anderen Hunde im Zwinger jaulten und bellten wie von Sinnen, weil Duke sich aus dem Staub gemacht hatte und sie selbst nicht hinterherkamen, sie sprangen an dem Gitter hoch, immer und immer wieder. Ian kehrte für wenige Minuten in die Hütte zurück, eben so viel Zeit, wie er brauchte, um sich die Polarjacke vom Haken und das Gewehr aus dem Schrank zu nehmen. Vor Tagen hatte sich ein Eisbär vor Point Hope herumgetrieben und Duke mochte seinen Geruch in die Nase bekommen haben oder es war eine läufige Hündin unterwegs. Duke war eigensinnig wie eine Katze und nur, wenn er im Gespann lief, ordnete er sich Ians Willen unter, dann war er der beste Leithund, der auf jeden Zuruf reagierte, ohne dabei auf seine Instinkte zu verzichten. Im Gespann konnte Ian sich voll auf ihn verlassen und ging Duke nicht über den geforderten Weg sondern suchte sich eine andere Strecke, konnte Ian davon ausgehen, dass das Eis nicht sicher war.
Weshalb Ian seinem Hund folgte, anstatt wie sonst zu warten, dass er von allein wiederkam oder dass ihn jemand zurückbrachte, konnte er später nur damit erklären, dass er an diesem stürmischen nachtschwarzen Tag sowieso nicht geschlafen hatte und ein inneres Gefühl ihm sagte, dass er Duke nicht allein herumlaufen lassen sollte. War der Eisbär noch in der Gegend, angelockt von den Gerüchen der Abfallberge, würde Duke keine Sekunde zögern, sich auf ihn zu stürzen, was zweifellos sein Ende wäre. Das Gewehr nahm Ian mit, um sich gegen den Bären zur Wehr setzen zu können und diese Entscheidung stellte er nicht in Frage – das hätte niemand getan. Die Männer in Point Hope waren sehr oft mit ihren Gewehren unterwegs, die Anzahl der Unfälle mit Schusswaffen in dieser Region war verschwindend gering, fiel durch jede Statistik. Ian kannte Dukes offizielle Trampelpfade, denen er zunächst folgen würde, vorbei an einigen Hütten und umzäunten winzigen Grundstücken, Ersatzteillagern für Schneemobile und aufgedockte Boote und Kanus; der Wind war vom feinsten in dieser Nacht, schien selbst das Licht aus der Taschenlampe schwächer werden zu lassen.
Ian kam nur langsam voran, leuchtete den Boden bei jedem Schritt ab, den er tat, atmete in seine Jacke hinein. Blinzelte er nicht schnell genug, drohten ihm die Lider festzufrieren. Er konzentrierte sich vollkommen darauf, Duke zu finden und nach Hause zu bringen, dass für den Gedanken an sein armes Bett und für Verwünschungen deswegen, weil er überhaupt aufgestanden war, kein Platz blieb. Vielleicht war es für ihn deshalb um so schwerer zu begreifen, was er im Schein der Lampe vor sich sah, als er den letzten Ausläufer des Hafens erreicht hatte; weil er damit nie im Leben gerechnet hätte.
Es gab nichts, was ihn darauf hätte vorbereiten können und in dem schwachen gelben Licht erschien alles so bizarr, dass er zunächst nicht reagieren konnte, er fühlte sich in seine Kindheit zurückgeschleudert, in die Zeit, als er dazu verurteilt gewesen war, an der Dachluke zu sitzen, zu beobachten und nicht helfen zu können. Er dachte, er würde zu dem Mann etwas hinüberrufen, ihn daran hindern, was er vor hatte, aber er schrie nur innerlich. Trotz der Taschenlampe sah Mätti ihn vermutlich gar nicht, er hatte sich ganz auf den großen Hund und auf die Waffe in seiner Hand konzentriert, etwas Restlicht von der fernen Beleuchtung reichte ihm, dass er sich orientieren konnte. Er sprach in seiner Muttersprache, versuchte dabei aber nicht, Duke von sich fortzujagen, er beschimpfte ihn.
Mätti hatte Hunde noch nie leiden können, konnte mit ihnen nicht umgehen und verstand ihre Körpersprache nicht. Die Waffe, die er immer bei sich trug, weil es zu viele schlechte Menschen gab, lag ruhig in seiner Hand und mit der konnte er umgehen. Er hatte sich einen Punkt gesetzt, an dem er schießen würde, zielte auf den Kopf des Hundes. Es ging ihm nicht darum, ihn sich nur vom Hals zu halten, er würde ihn töten, wenn möglich mit einem einzigen Schuss, weil er gehört hatte, dass Männer auch noch von schwer verletzten Hunden angegriffen wurden.
Duke seinerseits hatte kein großes Interesse an dem Mann, er war bei Fremden sehr zurückhaltend bis unfreundlich, hatte jetzt nur die lockende Duftspur des Eisbären in der Nase, der Stunden zuvor unbemerkt durch den Hafen geschlichen war. Trotz seiner Größe und Masse war Duke flink in seinen Bewegungen; er trabte hin und her, die Nase am Boden, dann wieder in der Luft, um den Wind zu überprüfen, ob der Bär noch in der Nähe war. Dabei entdeckte er Ian, den Boss, reagierte mit einem tiefen Bellen, das sich bei ihm wie ein Grollen anhörte, und was Mätti Hemmo dazu brachte, den Abzug seines Revolvers zweimal durchzudrücken. Blut spritzte bis auf seine Jacke. Es war seltsam, dass Ian es geahnt hatte und so blindlinks reagierte, noch bevor Hemmo überhaupt begriff, dass er nicht allein war. Ian legte an und drückte einmal ab, sehr ruhig und sehr gezielt, aber dabei hatte er weder seinen toten Hund noch den fremden Mann vor Augen; er fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge, nur mit der Ausnahme, dass er sich diesmal wehren konnte. In seinem Kopf waren nur zwei Bilder, zwischen denen er wie in einem Scheibenkino hin- und herklickte, und das eine Bild zeigte ihn, wie er auf dem Feld in Stockton hockte, die Knie im Dreck und mit den Händen an einem schwarzen Plastiksack, von dem er wusste, dass etwas schreckliches darin verborgen war, und das andere Bild war die Nahaufnahme seines Dads, in einem seiner absolut durchgeknallten Momente, in denen er so fremd und gleichzeitig so vertraut war, dass man darüber selbst verrückt werden konnte. Er schoss nicht wirklich auf den Mann, der eben seinen Hund getötet hatte, er zielte sehr genau – punktgenau- auf das Herz seines Vaters, der dafür verantwortlich war, dass seine Mutter und einige seiner Geschwister nicht mehr lebten und er von den anderen getrennt worden war. Es schein so normal wie in einem schrägen Traum, auf dieses Bild zu schießen und auch später, als er neben dem Toten im Schnee hockte, konnte er nicht wirklich begreifen, was er da getan hatte.
Den Toten ließ er dort liegen, wo er umgefallen war, für ihn war das nicht mehr als ein Fremder, der aus irgendwelchen Gründen herumlag. Nur die Waffe nahm er an sich und er trug Duke nach Hause, der in seine Armen so schwer wurde, wie er es lebend nicht gewesen war. Es war die Widerholung seiner Kindheit; er begrub Duke neben dem Zwinger, was ihm den Rest seiner Kraft kostete, denn der Boden war ab zwanzig Zentimeter tief gefroren und er brauchte die ganze Nacht, um das Loch auszuheben. Einmal begraben, konnte er perfekt verdrängen, was er getan hatte und er versenkte die Waffe des Fremden im Meer, indem er auf das Eis hinaus ging und sie in eines der Atemlöcher warf. Über die stürmische Nacht, die mit so viel Eis und Schnee endete, sprach er mit niemandem und da der Tote nicht gefunden und nicht vermisst wurde, konnte er sein Leben weiterführen und hatte es so erfolgreich verdrängt, dass er wirklich glaubte, Duke sei über den Zaun geklettert und weggelaufen.
Erst, als er nach seinem Geständnis im Hyde’s davonlief, über das Eis in Richtung Tlingitdorf fuhr, kamen die Erinnerungen zurück.

George Koonook war wieder der erste, den er einweihte in diese Sache und um Rat fragte und der Clanchef überlegte sehr lange mit einer Antwort.
Die Tlingits hatten auch in den Resten ihrer Kultur ganz eigene Gesetze, die sie in solchen Fällen anwandten, und George sagte, er solle nach Point Hope zurückkehren, wenn er sich auch den Behörden stellen und mit den Konsequenzen leben konnte.
„Ich habe jemanden getötet, weil ich ausgeklinkt bin“, sagte Ian neben Nick Reining sitzend, „und ich kann nicht garantieren, dass es mir nicht wieder passiert. Ich bin zu gut ausgebildet an den Waffen, als dass man mich wieder in die Zivilisation schicken könnte. Sowas wär mir sicher auch als verdeckter Ermittler irgendwann passiert.“
„Hast du dich deshalb ans Ende der Welt verkrochen?“
„Kommt mir jetzt so vor.“
Nick sah Ian sehr genau an, konnte sich nicht so recht an den rasierten Schädel gewöhnen und auch nicht an den Gedanken, dass Ian der Täter war, den sie suchten.
„Ich hab ein Problem, Ian. Was soll ich deiner Meinung nach tun, nachdem du mir das erzählt hast? Offiziell ist der Fall abgeschlossen, aber ein Wort und ich bringe dich vor Gericht. Was soll ich tun?“
„Das ist deine Entscheidung.“
„Das glaube ich nicht.“ Nick dachte an Carla, die von seiner Entscheidung ebenso betroffen war wie Ian, und die von all dem noch nichts ahnte.
„Ich hab keine Ahnung, wie ich mich entscheiden soll, in dieser Situation kann ich nicht mehr sagen, was richtig und was falsch ist. Wie ich mich auch entscheide, früher oder später werde ich es bitter bereuen und es nicht rückgängig machen können.“
Ian grinste, obwohl er nicht wissen konnte, wie Nick sich entscheiden würde, aber wohlmöglich war es ihm auch gleich, wie immer es ausgehen würde. Mit dem Wissen, was er getan hatte, kam der Gleichmut, den Rest auch ertragen zu können.
„Mein Ticket hab ich noch nicht bestellt, aber nach diesem Tag hie werde ich so schnell wie möglich verschwinden. Das ist etwas, was ich nicht auf die lange Bank schieben kann. ich muss mich jetzt entscheiden, richtig? Damit hast du gerechnet, nachdem du mir deine Geschichte erzählt hast. Und egal, wie ich mich entscheide, wir werden uns wohl nicht wieder sehen.“
„Nennen wir es einfach eine kurze heiße Affäre.“
Sie konnten noch immer gemeinsam lachen, so befreit und locker, als sei überhaupt nichts vorgefallen, und das machte Nick die Entscheidung plötzlich einfach; er musste es nicht aussprechen, machte nur eine Geste, die alles deutlich machte.
Ian kam aus dem Iglu, um sich mit Carla zu treffen, sie umarmten sich sehr lange und Carla weinte, strich über seinen Kopf, wollte gar nicht mehr wissen, was los war mit ihm. Nick zog sich langsam zurück, versuchte sich in dem scharfen Wind eine Zigarette anzuzünden und ganz gleich, was er auch anstellte, er warf sie schließlich in den Schnee. George winkte ihn wieder zu sich, in das Zeremonienhaus zurück. Nick fragte, ob er rauchen dürfe und bekam wortlos einen Glasaschenbecher gereicht.
„Er wird bei uns bleiben“, sagte George.
„Ich kann mich doch gar nicht anders entscheiden. Was hilft es, ihn wegen dieser Sache vor Gericht zu zerren und ihn ins Gefängnis zu bringen. Er lebt hierin einer so winzigen Gemeinde und in einer so unwirklichen Gegend, dass es schon so etwas wie ein privates Gefängnis ist. Er weiß, was er angerichtet hat und weswegen.“
„Ich werde ein Auge auf ihn haben, so lange wie er bei uns ist“, sagte George, „ich habe die Verantwortung für alle Mitglieder meiner Familie. Ich kann niemanden fallenlassen, nur weil er einen Fehler gemacht hat.“
„Dann war meine Entscheidung richtig.“
„Das kann ich nicht beurteilen, ich weiß nur, dass Ian zu unserer Gemeinde gehört und man ihn nicht mehr einfach herausreißen kann.“
„Das werde ich nicht tun. Ich fliege nach Hause und werde meinen Job erledigen, so gut ich kann. Ich bin darauf vorbereitet, dass ich von Ian nie wieder etwas hören werde, aber ich bin zufrieden, wenn er hier in Ruhe weiterleben kann.“
„Darum werde ich mich kümmern.“
Nick wollte den Vorschlag machen, in Kontakt zu bleiben, telefonisch oder auf dem Postweg, aber das einzige Thema wäre dann nur, was Ian macht und wie es ihm geht und das konnte keine Basis für eine Freundschaft sein.
Er gab George Koonook seine Karte.
„Wenn ich irgendetwas tun kann oder etwas passiert, was ich wissen sollte, rufen sie mich an.“
Sie verabschiedeten sich. Nick drehte sich zu Ian und Carla herum, behielt sie so in Erinnerung, wie sie ineinander verschlungen dastanden, Carla hielt ihre Hände in Ians Nacken verschränkt und sie hörte, was Ian zu sagen hatte.
Sie wird ihn nicht verlassen, dachte Nick, sie wird wissen, dass sie sich gegenseitig brauchen. Es wird alles gut laufen mit ihnen.
Er wollte sich nicht mit bemühten Worten verabschieden, deshalb wartete er beim Motorschlitten, dass Albie und Carla zurückkamen.
„Carla bleibt erstmal hier“, sagte Albie etwa zwanzig Minuten später, warf den Motor an, „wir fahren allein zurück.“
Reining stieg hinter Albie auf den Schlitten, hielt sich fest und als sie anfuhren, konnte er gar nicht anders – er musste sich umdrehen und einen Blick zurückwerfen, bis er in dem blauen Licht und der zurückkehrenden Dunkelheit die Hütten nicht mehr sehen konnte.
Er schlief ein letztes Mal in der Hütte, träumte sehr wirr und unruhig und als er morgens durch die Räume tappte, versuchte er sich das alles gut einzuprägen, um möglichst viel mitzunehmen. Nachdem er seinen Koffer gepackt hatte, war seine letzte Aktion, in den Garten hinauszugehen und das Loch wieder zuzuschütten, in dem er den gut erhaltenen Hundekadaver gefunden hatte. Er konnte sich nicht soviel Zeit nehmen wie er gewollt hätte, drückte die gefrorenen Grassoden und Erdbrocken mit dem Absatz fest. Sollte Duke weiter in Frieden ruhen. Möglicherweise würde es eines Tages herauskommen, dass Duke dort begraben war, aber wie bei so vielen Dingen, die in Point Hope vor sich gingen, und die an anderen Orten Aufsehen erregt hätten, würde man hier darüber hinwegsehen. In der winzigen Gemeinde war jeder darauf bedacht, niemanden auszuschließen und selbst nicht ausgeschlossen zu werden, und deshalb wusste Nick, dass Ian sich den richtigen Ort ausgesucht hatte.
Als sein Flugzeug gelandet war und darauf wartete, dass er einstieg, hatten sich ein paar der Einheimischen bei der Rollbahn versammelt, er wechselte mit den Hydes ein paar letzte Worte und Officer Svensson beklagte sich darüber, dass es in seinen Unterlagen keinen gelösten Mordfall sondern nur einen ungeklärten Todesfall geben würde.
„Sehen sie’s positiv“, erwiderte Nick, „vielleicht hätte ihnen etwas anderes gar nicht gefallen.“
Der Pilot drängte ihn, endlich einzusteigen, weil er es im Urin hatte, dass das gute Wetter nicht mehr lange halten würde; Nick dachte noch beim Einsteigen und Zuklappen der Tür, dass er einfach dort bleiben könnte, in dieser unwirklichen Landschaft und bei diesen Menschen, von deren Sorte er wohl im ganzen Land keine mehr finden würde. Aussteiger, Pilger, Verrückte, Überlebenskünstler. Es bräuchte nur einen Schritt, um sein Leben zu verändern, aber letztendlich wagte er es nicht, die Vernunft erkämpfte sich die Oberhand und es zog ihn sehr direkt und sehr energisch nach Atlanta zurück, wo seine Wohnung und sein Büro auf ihn warteten.
Der nächste Fall mochte bereits auf seinem Schreibtisch liegen und wäre Ian nicht gewesen, hätte er die Episode in Alaska schnell wieder vergessen, übertrumpft von anderen Dingen, die er sah und erlebte.
Seltsamerweise dauerte es Wochen, bis er Bragas wieder zu Gesicht bekam, er versuchte freundlich zu bleiben, während Bragas nur das allernötigste sprach und den direkten Augenkontakt vermied. Die Akte war längst geschlossen, aber Nick fand es notwendig, einen letzten Satz loszuwerden und lud seinen Kollegen auf einen Kaffee beim nächsten Straßenimbiss ein.
„Ich danke ihnen, dass sie Ian aus dem Bericht rausgehalten haben“, sagte er, „sie werden es nicht verstehen, dass es viel bedeutet, aber ich muss ihnen auch für die Beurteilung danken, dass man von einem Unglücksfall sprechen müsse.“
„Gern geschehen“. Bragas sah Nick Reining an, zog die Mundwinkel nach unten und versuchte es wie ein Lächeln aussehen zu lassen.
„Ich weiß, was los war“, sagte er, „aber wenn ihr Freund im Eis bleibt, soll es mir nur recht sein. Ich werde nicht sagen, was ich vermute, weil sie es mir nicht bestätigen werden, also lasen wir es dabei, dass die Akte ungelöst ins Archiv wandert.“
Nick Reining tat sich schwer darin, nach dieser Unterhaltung noch den alten unausstehlichen Bragas zu sehen, aber um mit ihm nicht weiter über Ian reden zu müssen, vermied er es, mit ihm zusammen zu arbeiten.
Immer wieder dachte Nick daran, nach Kansas zu fahren und die McFaddens zu besuchen, so wie er es schon einmal getan hatte, nur in der Hoffnung, dass Ian sich inzwischen bei ihnen gemeldet haben könnte, aber diesen Plan schob er immer wieder vor sich her. Mal hatte er so viel zu tun, dass er kaum einen Tag zu Hause war, flog von einer Stadt in die nächste; dann dachte er häufig an Ian, aber war er einige Tage zu Hause und konnte ausspannen, fand er Ausreden genug, um dann die Reise doch nicht anzutreten.
Erst nach Monaten, in denen er viel über Point Hope und Ian nachdachte, setzte er sich einen Abend an seinen Schreibtisch und begann einen ganz altmodischen Brief zu schreiben, von dem er noch nicht wusste, ob er ihn jemals abschicken würde.
Dass er nichts von Svensson oder Carla hörte, wertete er als gutes Zeichen und ihm wurde klar, dass Ian bereits vor dem tödlichen Zwischenfall mit dem Schiffskoch die Abgeschiedenheit Alaskas gewählt hatte, als hatte er die Ahnung, dass etwas passieren würde. Er hatte sich selbst aus dem Verkehr gezogen.

Im Tlingitdorf, Alaska, arbeitete Ian mit seinen Hunden, trainierte sie wie ein Besessener und sprach mit keinem Wort von einer Rückkehr nach Point Hope. Carla kam fast jeden Tag vorbei, selbst während der dunklen Jahreszeit, sie aßen zusammen und führten auch weiterhin eine fast normale Partnerschaft, in der sie über alles sprechen konnten, nur nicht über die Nacht, in der Duke verschwunden war. Carla dachte nur daran, Ian über die schwere Zeit hinwegzuhelfen und sie hätte auch vorübergehend ihren Job in der Schule aufgegeben, aber dagegen hatte Ian etwas.
„Du kannst deinen Job nicht auch noch hinschmeißen“, sagte er, „wir brauchen zumindest ein Einkommen, um über die Runden zu kommen. Ich kann dir nicht sagen, wann ich wieder meinem Job nachgehe.“
„Hast du andere Pläne im Moment?“
Ian dachte über die Antwort sehr lange nach und Carla dachte, dass sie es nicht für möglich gehalten hätte, dass jemand noch schweigsamer und verschlossener sein könnte.
„Ich habe überlegt mich zu stellen“, sagte er schließlich.
„Damit würdest du nicht nur unser Leben kaputt machen, Ian. Sie würden Nick den Kopf abreißen und ihm vorwerfen, aus alter Freundschaft beide Augen zugedrückt zu haben. Seine Karriere wäre damit beendet.“
„Das ist auch der einzige Grund, es nicht zu tun.“
Es dauerte Monate, in denen Ian sich klar zu werden versuchte, wie er mit seiner Tat umgehen solle, mit der Schuld zu leben, die auf ihm lastete. Er war versucht, seinem Vater die ganze Schuld daran zu geben, aber as wäre zu einfach gewesen, und so verbrachte er sehr viel Zeit mit seinen Hunden und den Tlingits.
George hielt ihn immer wieder dazu an, mit den Jugendlichen aufs Eis zu gehen oder an den regelmässigen Ritualen teilzunehmen. Ian begann einen Stamm Treibholz zu bearbeiten, nachdem er sich lange Gedanken darüber gemacht hatte, was die Statur ausdrücken solle. Das FBI hatte den toten Körper mitgenommen, aber George sagte, seine Seele könne noch herumirren und Ruhe suchen; möglicherweise würde der tote Seemann in der Gestalt eines Polarbären zurückkehren und Rache nehmen wollen, deshalb müsse Ian Vorkehrungen treffen.
Obwohl es in Point Hope niemand offen aussprach, Ian könnte etwas mit dem Toten zu tun gehabt haben, machten sie alle Gedanken darüber, was es mit seiner Vergangenheit auf sich und was es mit seinem Verschwinden zu tun hatte. Carla wagte es nicht, irgendetwas zu erklären, aus Angst, etwas falsches zu sagen.
Ians normales Leben begann ganz langsam wieder, als er stundenweise nach Point Hope kam, um Farbe zu kaufen und den verdutzten Hydes sagte, er würde seine Hütte räumen und vermieten.
Helen Hyde sagte später jedem, der in den Laden kam, dass er soviel Gewicht verloren habe, dass sie ihn fast nicht wiedererkannt hätte, sein Schädel sei kahl rasiert gewesen, aber er habe zufrieden ausgesehen.
„Er sah aus wie jemand, der auf ein Ziel zuarbeitet“, sagte sie, „und ich für meinen Teil kann endlich aufhören, mir Sorgen um ihn zu machen.“

***
Der Sternennebel des Orion ist zu sehen in den wolkenlosen Nächten, ebenso wie die unheimlichen Polarlichter, die über den ganzen Horizont tanzen und in den unigkaaq, den überlieferten Geschichten, spielen diese Zeichen am Himmel eine große Rolle. Ian sieht immer wieder in den Himmel, fragte sich, wie es seinem Freund da draußen geht, ob auch die McFaddens noch gut zurecht kommen daheim.
Er starrt zu den Sternen hinauf und wünscht ihnen alles Gute, wo sie auch sein mochten. Dann geht er zu Carla in die Hütte, die er gebaut hat, und am nächsten Morgen fährt er sie nach Point Hope rüber. Er nimmt am Flugplatz den Postsack entgegen und staunt nicht schlecht, dass er einen Brief bekommen hat. Noch nie war ein Brief für ihn dabei gewesen und das, was Nick ihm schreibt, beruhigt ihn und lässt ihn glauben, dass er ihn doch nicht zum letzten Mal gesehen hatte.


geschrieben vom 04 Mai 1999 bis 14 April 2001
 

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