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Das Mädchen Helga

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©  rosmarin   
   
Das Mädchen mit den rotblonden Zöpfen und den lustigen Sommersprossen trällert ein Liedchen. Seine Hand liegt vertrauensvoll in der des alten, dicklichen Bergmann. Sie haben sich schon ziemlich weit von den Mauern des ehrwürdigen Klosters entfernt, überqueren jetzt die Hauptstraße,laufen den schmalen Weg am Alten Teich entlang,vorbei an den hübschen Schrebergärten, machen Halt vor einem Gartentor. Der alte Bergmann holt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, schließt das Tor auf und von innen wieder zu.

Es ist Frühling. Im Garten blühen die Kirschbäume. Die Sonne steht schon ziemlich tief. Doch noch immer umschwirren Hummeln und Bienen die weißrosa Blüten.
Der Mann ergreift wieder die Hand des Mädchens und führt es zu einem winzigen Häuschen, das nur aus Brettern zu bestehen scheint.
"Geh da hinein, Helga", sagt er mit sanfter Stimme. "Dort drin ist ein Geheimnis. Das darfst du aber keinem Menschen verraten. Es muss für immer und ewig unser Geheimnis bleiben. Versprichst du mir das?"
Helga nickt gehorsam. Sie ist wie immer etwas ängstlich, aber auch sehr neugierig. Neugierig auf das Geheimnis, das in dem dunklen Häuschen auf sie wartet. Bestimmt sind Schätze da drinnen. Bunte Tonkugeln vielleicht. Oder Glaskugeln mit seltsamen Gebilden. Bunte Bänder. Ein Kreisel aus Holz. Mit vielen Rillen. Und dazu eine Peitsche. Vielleicht sogar ein Sesam öffne dich? Wie in dem dicken, bunten Märchenbuch, aus dem der alte Bergmann den Mädchen jeden Abend eine Geschichte vorliest.
Ja sie wird schweigen. Sie hat immer geschwiegen. Niemals hat jemand gefragt, was sie denkt oder fühlt. Sie kann schweigen. Wie ein Grab.  
Fröhlich hüpft sie durch die niedrige Tür und steht plötzlich im Dunkeln. Sie mag keine Dunkelheit. Sie hat Angst. Das Herz pocht ihr bis zum Hals.
"Onkel Bergmann, mach bitte Licht an", sagt sie zaghaft.
"Licht haben wir hier nicht", erwidert der Mann. "Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich mach gleich den Fensterladen auf, damit du mich sehen kannst."

Sofort beruhigt sich Helga. Onkel Bergmann ist ein netter Mensch. Er ist die Gute Seele des Hauses, wie die Nonnen immer sagen. Man kann ihn nicht entbehren, auch wenn er manchmal etwas eigenartig ist. Er versorgt das Kloster mit Holz und sorgt dafür, dass die Zöglinge es immer schön warm haben und im Winter nicht frieren müssen. Er reinigt auch die alten Kanonenöfen, von denen in jedem Zimmer einer in der Ecke steht. Und er putzt die langen, schwarzen Rohre, damit sie immer schön glänzen. Und für das Licht sorgt er auch, damit er den Kindern jeden Abend Punkt achtzehn Uhr eine schöne Geschichte vorlesen kann, bis die Nonne Henriette kommt und sagt:
"Schluss jetzt, Herr Bergmann. Die lieben Kleinen müssen nun schlafen. Auf welches Mädchen fällt diesmal ihre Wahl? Welches war besonders folgsam?"
Einige Mädchen werden dann ganz steif in ihren Betten und ziehen sich schnell die Decke über den Kopf.
"Diese da", sagte er diesmal und zeigte auf sie. Helga.
"Komm, Helga", hatte Henriette gesagt und ihr die Zöpfe fester gebunden. "Du darfst noch eine Stunde in Herrn Bergmanns Garten spielen."

Der alte Bergmann ist nach draußen gegangen und hat den Laden zur Seite geklappt. So fällt die Dämmerung in den Raum.
Helga erkennt eine Eckbank an der Wand unter dem Fenster und davor einen langen Holztisch. An der Stirnseite steht ein grün gestrichener, roh zusammengeschusterter, alter Stuhl und darauf liegt ein dicker Strick. Daneben ein rotes Tuch.
"Sind das die Schätze?" Helga läuft schnell darauf zu.
"Ja", die Schätze."
Der Mann lacht ein warmes Lachen, streichelt zärtlich die Wangen des Kindes.
"Und wo ist das Geheimnis?"
Vertrauensvoll reibt Helga ihr Gesichtchen an dem rauen Stoff der Hose des alten Bergmann.
"Ich zeig es dir", sagt er. "Ich führe dich hin. Aber ich muss dir die Augen verbinden, damit du es nicht zu früh siehst. 

Helga schließt die Augen, der alte Bergmann legt ein Tuch darüber, verknotet es an ihrem Hinterkopf, brummt zufrieden. Er summt sogar eine Melodie.
Helga hört Wortfetzen des Textes - Wie ein Vogel zu fliegen/In die Lüfte hinein/ Ja das wäre ein Vergnügen/ Möcht' ein Vogel wohl sein.

Der Mann ist über sich selbst gerührt. Er liebt diese kleinen, süßen Dinger. Ihre zarte Haut. Die Unschuld ihrer Seelen. Er muss sie besitzen, obwohl er weiß, dass danach unweigerlich der Katzenjammer einsetzt, das schlechte Gewissen ihn zerfrisst, er die ganze Nacht vor dem Altar in der Kapelle kniet; er sich mit dem Ochsenziemer blutig züchtigt und Gott um Vergebung anfleht.
Wie oft hat er sich geschworen, es nie wieder zu tun. Wie viele Male gewünscht, von außen entdeckt zu werden. Seine gerechte Strafe zu bekommen. Auch vor der Welt zu sühnen, um endlich Frieden zu finden.
Doch hinter den Klostermauern liegt das große Schweigen. Und er ist ein schwacher Mensch. Ein Mann, der sich und die Mädchen zerstört. Das ist ihm schmerzlich bewusst. Aber verflucht. Er muss es tun. Er muss. Da ist etwas in ihm, das stärker ist als er. Stärker als Gott. Der Allmächtige. Doch verzweifelt zweifelt er an ihm. Seiner Allmacht. Seiner Allwissenheit. Warum sonst hört, erhört, er nicht sein Rufen? Wo ihm doch schon die Haut in Fetzen vom Leibe hängt? Warum lässt er Satan sein verruchtes Spiel mit ihm treiben. Das Verlangen ist zu stark. Die Leidenschaft. Der Druck.

„Oh, Gott“, flüstert der alte Bergmann, „Oh Gott! Vergib mir.“
„Warum weinst du, Onkel Bergmann?"
Helga legt mitfühlend ihre kleine Hand in die große Hand des weinenden alten Mannes.
"Setz dich auf den Stuhl, setz dich, meine kleine, süße Prinzessin", schluchzt er.
Folgsam setzt sich Helga auf den Stuhl.
Was wird geschehen. Ist das ein Spiel? Plötzlich spürt sie, wie der Mann ihre Arme mit dem dicken Strick an die Lehne des Stuhles bindet und bekommt Angst. Auch ihre Füße werden festgebunden. Nun laufen auch ihr die Tränen über die Wangen, die Mundwinkel, die Halsbeuge, hinein in den Ausschnitt ihres leichten Sommerkleidchens.
"Hab keine Angst", sagt der alte Bergmann zärtlich und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. "Wenn du ganz lieb bist, passiert dir nichts. Aber wenn du schreist, muss ich dich bestrafen. Dann bist du ein garstiges, kleines Mädchen. Dann stopfe ich dir den Mund zu. Also, sei ganz artig."

Tapfer beißt Helga die Zähne zusammen und nickt. Sie sagt auch nichts, als die dicken, heißen Hände des Mannes unter ihr Kleid mit den gelben Schmetterlingen tasten, obwohl sie ahnt, dass das, was da geschieht, nicht gut ist, dass der alte Bergmann das nicht tun darf. Was er mit seinen Händen macht, tut weh. Höllisch weh. Und sie darf nicht schreien. Nicht einmal etwas sagen. Ihr wird übel. Sie will aufspringen. Weglaufen. Doch es geht nicht. Sie ist festgebunden. Und sie darf nicht schreien. Aber sie schreit doch.

"So, genug", sagt da der alte Bergmann und bindet sie los.
„Ich will zu meiner Mami."
"Du hast keine Mami. Deine Mami ist tot. Das weißt du doch."
Helga schluchzt. Ihr Atem geht flach, stoßweise.
"Ich muss dich bestrafen." Der Mann ist jetzt sehr böse. "Du bist ein unartiges, kleines, widerspenstiges Gör. Hier, schau mal, was ich für dich habe.“
Der Mann lacht boshaft, knöpft hastig seine Hose auf, nimmt die Hände des Mädchens, legt sie um seine starke Erektion.
„Was hast du da?“
Erschreckt zieht Helga ihre Hände zurück, versteckt sie hinter ihrem Rücken.
„Mach den Mund auf."
Der alte Bergmann ist jetzt sehr böse. Helga öffnet gehorsam ihren Mund, glaubt, im selben Moment ersticken zu müssen. Würgt.
‚Gleich bin ich tot‘, denkt sie, ‚wie Mami. Und ich komme nie wieder. Und nie werde ich das Geheimnis erfahren. Nie.‘
Der alte Bergmann ist ganz rot im Gesicht. Sagt Worte, die sie nicht versteht. Vielleicht stirbt er ja auch. Also macht sie lieber, was er verlangt.
"Du bist ein braves Mädchen", sagt der Mann später. Er geht in die Ecke neben dem Fenster. Dort steht eine Kommode. Darauf eine Schüssel und ein Krug mit Wasser. Er gießt das Wasser in die Schüssel, wäscht sein Gesicht und danach das Ding, das eben noch in Helgas Mund war und vor dem sie sich so geekelt hat.
"Komm her“, sagt der Mann. „Ich wasch dir die Tränen ab. Du brauchst doch nicht zu weinen. Es ist doch alles gut." Er öffnet ein Schubfach, entnimmt einem Kästchen eine Tafel Schokolade und einen Fünfmarkschein. "Das ist für dich. Weil du so ein süßes, kleines Dingelchen bist. Und so folgsam warst."
"Und das Geheimnis?" Helga schaut ihn mit großen, bittenden Augen an.
"Das ist unser Geheimnis", flüstert der Mann dicht an ihrem Ohr. "Du warst lieb zu mir. Und dafür bekommst du die Schokolade und das Geld. Verstanden?"
Helga macht einen Knicks und nickt. Doch die Tränen laufen noch immer über ihr Gesicht. Nie hätte sie gedacht, dass ein Geheimnis so weh tut.
"Das darfst du aber keinem erzählen", wiederholt sich der Mann. "Das nächste Mal bekommst du wieder Schokolade. Und Geld, ja?"

Helga isst sehr gern Schokolade. Und auch das Geld ist nützlich. Es kommt in die Sparbüchse. Es ist für die Mami. Vielleicht gibt es im Himmel ja nicht genug Arbeit. Weil da zu viele Menschen wohnen. Sie wird es später in dem Klostergarten unter die uralte Eiche legen. Dann wird der Wind kommen und die Scheine in die Wolken wirbeln. Und die Wolken werden es in den Himmel bringen. Zur Mami. Dann freut sie sich.
Helga ist sehr nachdenklich. Folgsam geht sie an der Hand des Mannes zurück zu dem alten ehrwürdigen Kloster.

*

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Der alte Bergmann ist gestorben. Und aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden. Sehr spät erst hat sie realisiert, was hinter den verschwiegenen Klostermauern geschehen ist. Sie hat eine Therapie gemacht und das Trauma aufgearbeitet, so dass sie heute ein halbwegs normales Leben führen kann. Doch noch immer ist sie keine gewöhnliche Frau. Sie ist eingesponnen in ihre eigene Welt. Lebt in einer Hütte im Wald und schreibt Geschichten. Und manchmal, in hellen Vollmondnächten, kann man ihre elfenhafte, in ein weißes Gewand gehüllte Gestalt unter den uralten Bäumen wandeln sehen.

***
 

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