... für Leser und Schreiber.  

Schwarze Feder

319
319 Stimmen
   
© Klaus Asbeck   
   
„Heilig, heilig ist das Leben“, murmelte sie vor sich hin und strich mit ihren Handflächen sanft über die Felssteine, die sie über dem Grab von Singender Wolf aufgetürmt hatte. Sie richtete sich auf. Ihre Glieder schmerzten sie, nachdem sie drei Tage und Nächte an seinem Grab nahezu bewegungslos verharrt hatte. „Nein, dies ist kein Abschied. Gewisslich wirst Du bis zu meinem letzten Augenblick in mir lebendig sein. Das garantiert etwas, das den Begriff der menschlichen Liebe bei weitem übersteigt.“ Bei diesen Gedanken griff sie sich an ihr Herz und ging langsamen Schrittes zum Dorf zurück, hinter dem die ersten Sonnenstrahlen die Baumwipfel in ein rötliches Licht tauchten.

Es waren die letzten Tage des Indian Summer, wo die Ahornbäume in ihrer farbigen Pracht den vergangenen, kurzen Sommer noch einmal lobpreisten, bevor der alles bedeckende Schnee kommen würde, der Schnee mit seiner Kälte und den vielfältigen Nöten für Mensch und Getier.

Schwarze Feder war sich der Pracht der Natur, der Stille um sich herum und in sich bewusst, diese lautlose Stille, die den Schmerz in ihr so deutlich werden ließ. Sie war nun gänzlich allein. Aber sie fühlte sich nicht einsam, denn dazu waltete in ihr zu viel Lebensmut. Und es erwartete sie die Aufgabe, den Auftrag von Singender Wolf zu erfüllen, ihr Volk durch die schwierigen Zeiten zu führen und vor dem Vergessen seiner Kultur zu bewahren.
Aber auch Schwarze Feder blieb von den ersten Anzeichen des Alterns nicht unberührt. Ihr langes Haupthaar, das ihr bis über die Schultern fiel, wechselte die ehemals tiefschwarze Farbe ins Grau. Ihre einst festen Brüste, die nur zum Schluss Singender Wolfs gestreichelt hatte, hatten ihre Form verloren. Ihre Schenkel, die so manches Pferd zur Jagd vorangetrieben hatten, waren schwammig geworden. Doch ihr Antlitz hatte nichts von seiner geheimnisvollen Ausstrahlung verloren, woran die zunehmenden Falten nichts änderten.

Bevor sie erhobenen Hauptes ihr Dorf erreichte, kam ihr der Gedanke, die Gebeine ihres treuen Wolfes, der vor vielen Monden in hohem Alter in ihren Armen friedlich gestorben war, auszugraben und neben dem Grab von Singender Wolf erneut zu bestatten. Denn nur Singender Wolf hatte sich ihm außer ihr nähern und ihn streicheln dürfen. Sie hatte den Wolf als Welpen beim Jagen in der Steppe aufgegriffen, ihn „Traumtänzer“ getauft und ihn aufgezogen. Er wich fortan nicht mehr von ihrer Seite und ließ niemanden in die Nähe von Schwarze Feder, mit Ausnahme von Singender Wolf.

Als sie aufrecht und mit Stolz, der ihr angeboren war, die unsichtbaren Grenzen des Dorfes ihres Volkes überschritten hatte, machte man ihr ehrfurchtsvoll Platz. Jedem war bewusst, welch schwierige Aufgabe sie erfüllt hatte. Von ihr fiel die verhangene Schwere allmählich ab, als sie ihren Wigwam betrat. Sie blickte nach vorn und wusste um ihr Schicksal. Vor ihrem Zelt stellte eine ältere Frau einen Krug frisches Wasser und eine dampfende Schüssel mit Nahrung ab. Die ersten Schneeflocken fielen und tanzten noch im leichten Wind, bevor sie den Boden bedeckten. Ein jüngerer Mann legte vor ihrem Zelt Reisig, Brennholz und ein Behältnis mit glimmender Holzkohle ab. Schwarze Feder setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Lagerstatt, die sie noch bir vor kurzer Zeit mit Singender Wolf geteilt hatte, ohne dass es außer seinem Streicheln ihrer Brüste zu einer weiteren intimen Annäherung gekommen war. Ein tiefer Friede nahm von ihr Besitz ein. Sie machte Feuer und verzehrte das Essen. Sodann legte sie sich zum Schlafen nieder, ein langer tiefer Schlaf, der bis zum nächsten Morgen währte. Doch bevor sie einschlief, kreuzte sie die Arme über ihren Brüsten, dankte dem Grossen Geist und bat inständig Singender Wolf um Beistand für ihre schwierige Aufgabe als Führerin ihres geprüften Volkes.

Schon in dieser ersten Nacht in ihrem Wigwam nach dem Weggang von Singender Wolf erschien ihr dieser im Traum und teilte ihr mit, dass er nicht tot sei, und dass sie sich schon bald als Führerin zu bewähren habe und mutig der Herausforderung begegnen müsse.

Am nächsten Tag versammelte sie die Ältesten um sich im Grossen Zelt und teilte ihnen mit, wie ihr Singender Wolf im Traum erschienen sei. Sie fragte jeden einzelnen von ihnen, ob er ihr folgen wolle, wie immer sich die nahe Herausforderung gestalten würde. Die Alten nickten nach einer kurzen Bedenkzeit zustimmend. „So sei es denn“, erwiderte sie, wobei etwas nach ihrem Herzen griff.

Die Tage verstrichen. Einige junge Männer sattelten die wenigen Pferde, die man nach dem langen Marsch hierhin als Wildpferde eingefangen hatte, und spürten dem wenigen Wild nach, das sich in dieser kargen Gegend aufhielt. Der nahe strenge Winter würde wieder sehr hart und entbehrungsreich werden.

Sie saß oft in ihrem Zelt und rief den Grossen Geist an, dass er sich nicht von ihrem Volk abwenden möge, das schon so viel gelitten hatte, und das schon so geschrumpft war. „Hilf uns, gnädiger Vater“, murmelte sie ein ums andere Mal. „Gib unseren Kindern eine würdige Zukunft.“ Dabei spürte sie nicht selten, dass Singender Wolf in ihrer Nähe war. In diesen Augenblicken musste sie trotz ihrer bangen Sorgen lächeln. „Ich weiß, dass Du bei mir bist.“

Die Leute hielten respektvoll Abstand, nur ein kleines Mädchen kroch häufig in ihren Wigwam und schmiegte sich an sie, wobei sie ihm liebevoll über das Haar strich. „Ein eigenartig stilles Mädchen“, dachte Schwarze Feder. „Was wird wohl aus Dir werden, wenn ich längst nicht mehr bin?“ Nach diesen regelmäßigen Besuchen brachte sie das Mädchen jedes Mal zu ihrer Mutter zurück, die dann immer zustimmend lächelte.

Die Tage vergingen ereignislos mit einer Ausnahme. Da hielten eines Tages zwei junge Jäger ihres Volkes auf ihren Pferden vor ihrem Zelt an. Einer hielt vor sich auf dem Pferd ein zappelndes und knurrendes junges Wolfsknäuel fest, dem man die Beine gefesselt hatte. Schwarze Feder trat vor ihr Zelt und der Jäger reichte ihr dieses wilde Knäuel herunter. Als sie dieses Wolfsjunge in den Armen hielt, mussten die beiden Jäger erstaunt bemerken, dass sich das Tier augenblicklich beruhigte. Sie bedankte sich durch Kopfnicken und entfernte im Zelt augenblicklich die Fesseln. Der junge Wolf ließ es widerstandslos geschehen und zwei Augenpaare begegneten sich im gegenseitigen Vertrauen. „Bist Du endlich zurück Traumtänzer?“, kam es ihr über die Lippen. Traumtänzer leckte ihr durch das Gesicht. „Ein Zeichen! Ich danke Dir, Singender Wolf. Das Leben geht weiter.“ Dabei fuhr sie sich über die Augen. Fortan teilte sie mit im ihr kärgliches Mal, wobei Traumtänzer die besseren Bissen abbekam. Auch teilte er mit ihr das Lager und beide wärmten sich gegenseitig.

Dann kam der Tag, auf den sie unruhig gewartet hatte. Er kündigte sich ihr durch eine schlaflose Nacht an. Am Morgen legte sie ihr Festgewand an und band ihre Haare zusammen, in die sie eine große Adlerfeder von Singender Wolf so befestigte, dass sie auf dem Rücken leicht mit dem Wind spielte. Sie schritt ins große Zelt und ließ die Dorfältesten herbeiholen, die ihr Erstaunen über ihr Äußeres kaum verbergen konnten. „Der Augenblick ist gekommen, wo ich Euren Mut einfordere, mir zu folgen“, sprach sie zu diesen, wobei ihre Augen in die Ferne gerichtet waren. Draußen hörte man Pferdegetrampel. Im Zelteingang erschien einer ihrer Jäger, gefolgt von drei Soldaten nebst einem Mischling.

„Was wollt Ihr wieder von uns? Habt Ihr uns nicht schon genug Leid zugefügt?“ sprach sie den offensichtlichen Anführer an, einen älteren Offizier mit müden Augen. Der Mischling übersetzte Ihre Worte, worauf der Offizier antwortete, dass der Stamm das Gebiet auf Weisung des Grossen Häuptlings aus Washington verlassen und in ein anderes Gebiet umsiedeln müsse. Schwarze Feder erhob sich abrupt und man vernahm folgende Rede von ihr, wobei die dem Offizier derart in die Augen sah, dass dieser den Blick senken musste:

„ Ihr Weißen mit den steinernen Herzen habt uns dreimal von unseren Jagdgründen vertrieben. Dreimal sind auf den Märschen Kranke, Alte und Kinder an Erschöpfung, Hungers oder wegen der Kälte gestorben. Selbst ihre ehrenvolle Bestattung habt Ihr nicht zugelassen. Der Winter steht bevor, der uns ohnehin kaum ernährt. Einen erneuten Marsch würden nur wenige von uns überleben.“

Schwarze Feder hielt kurz inne und fuhr dann mit fester Stimme fort:

„ So berichtet denn Eurem Grossen Häuptling, dass wir von hier nicht mehr fortziehen werden, weder tot noch lebendig. Wir ziehen es vor, von Euch hier erschossen zu werden, wobei ich die Allererste sein werde, als elendig auf dem Marsch umzukommen. Doch zuvor schaut in die unschuldigen Augen unserer Kinder. Wenn Ihr nicht schon jetzt mit dem Morden beginnen wollt, dann reitet zurück und berichtet Eurem Grossen Häuptling von dem, was ich Euch soeben im Namen meines Volkes verkündet habe. Ich habe gesprochen.“

Der wortführende Offizier hob den Blick und schaute Schwarze Feder mit seinen müden Augen an, mit dem Blick eines Mannes, der zuhause Kinder hatte, und dem schon längst Zweifel gekommen waren. Er beriet sich kurz mit seinen Begleitern. Dann sagte er, dass sie wiederkommen würden, aber dass er ihre Botschaft verstanden habe. Dann nahm er Haltung an und salutierte vor Schwarze Feder. Ja, er salutierte vor einer Indianerin. Draußen hörte man sodann sich entfernendes Pferdegetrampel.

Es herrschte Stille im Grossen Zelt. Traumtänzer kam schwanzwedelnd herein und schmiegte sich an die Beine von Schwarzer Feder, wobei er doch Menschenansammlungen für gewöhnlich aus dem Weg ging.

Alle schauten zu Schwarze Feder auf, die ihnen für diesen Augenblick ihren alten Stolz zurückgegeben hatte. Man bildete am Zelteingang ein Spalier, die Frauen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite. Hoch aufgerichtet schritt Schwarze Feder mit versteinerter Miene, Traumtänzer an ihrer Seite, gefolgt von den Dorfältesten, hindurch und zu ihrem Wigwam, an dessen Eingang sie die Adlerfeder befestigte.

In der darauffolgenden Nacht erschien ihr im Traum Singender Wolf. „Ja, Du warst mutig. Mit Deinem Mut hast Du unser Volk errettet. Du bist an dem richtigen Platz. Du hast das starke Herz einer Wölfin, die ihre Jungen verteidigt.“

Der Winter war hart, der dann kam. Aber ein nicht weit entfernter größerer Fluss spendete an einem kleinen Wasserfall, der nicht zufror, und den die Lachse im Sprung überwinden konnten, so viel Nahrung, dass ihr Volk nicht verhungerte.

Es vergingen einige friedliche Jahre und dann kam der Tag, an dem sich Schwarze Feder wieder ihr Festgewand anlegte, die nun gänzlich ergrauten Haare zusammenband und an ihnen die große Adlerfeder befestigte, die wieder mit dem Wind spielte. So wartete sie vor dem Zelt. Es war Sommer. Sie hörte nicht weit ab die Kinder ihres Volkes beim Spielen lachen. Sie hatte ihre Aufgabe, die ihr Singender Wolf vor unzähligen Monden übertragen hatte, zum Wohle ihres Volkes erfüllt. Traumtänzer lag, bereits gealtert, faul zu ihren Füssen und ließ sich von der Sonne das Fell wärmen. Heute sollte ihr Wirken sichtbar belohnt werden. Ein tiefes Glücksgefühl und Dankbarkeit bemächtigten sich ihrer.
Als sie von Traumtänzer aufschaute, standen zwei Männer vor ihr, der ehemalige Offizier und der Mischling. Jener reichte ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen. Beide lächelten wortlos, wissend. Sie schritt langsam zum Grossen Zelt, gefolgt von Traumtänzer, der schon lange nicht mehr beim Nahen von Menschen knurrte, und den beiden Männern. Sie nahm auf dem für sie bestimmten Sitz Platz und bedeutete den beiden Männern mit einer einladenden Geste, vor ihr das Gleiche zu tun. Sodann ließ sie die Dorfältesten rufen und gab weitere Anweisungen.

Der ehemalige Offizier begann wie folgt zu ihr zu reden, wobei der Mischling wieder übersetzte:

„Als wir vor einiger Zeit mit der schlechten Nachricht zu Euch kamen, war mein Herz schon aufgebrochen und bereit, Deine Worte aufzunehmen. Ob dies auch die Worte eines männlichen Führers vermocht hätten mag zweifelhaft sein. Ich bin mit Deiner verzweifelten Nachricht vor unseren Grossen Häuptling getreten, der Dank Deiner Kraft verstanden hat. Danach habe ich meinen Rücktritt eingereicht, der eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant war.“

Sie nickte bei diesen Worten und entgegnete nur „Der große Geist möge Dich beschützen.“

Sodann wurde unter den Männern die Heilige Pfeife rumgereicht, wobei die Frauen ein Essen im Grossen Zelt über einem offenen Feuer zubereiteten. Dafür hatte am Vortag ein hier seltenes Hirschkalb sein Leben hingegeben. Anschließend wurde den beiden Männern ein leerstehender Wigwam zur Übernachtung angewiesen.

Singender Wolf ist Schwarzer Feder seitdem nicht mehr im Traum erschienen. Sie hatte ein hohes Alter erreicht, geliebt und geachtet von ihrem Volk. Das einstmals kleine Mädchen, das Schwarze Feder häufig besucht hatte war mittlerweile zur Frau herangewachsen. Schwarze Feder, deren Kräfte langsam nachließen, war dankbar für ihre stetige Hilfe und Sorge.
Geraume Zeit vor ihrem Tode musste sie noch Traumtänzer beerdigen, wozu sie fremde Hilfe abgelehnt hatte. Und wo wohl?

Auf ihr Totenlager legte man den Grossen Federschmuck eines Häuptlings, mit dem sie bei den Ahnen erscheinen sollte.

K. A. 7. XI. 2009
 

http://www.webstories.cc 30.04.2024 - 06:47:52