... für Leser und Schreiber.  

Der Spiegel des Todes (3)

20
20 Stimmen
   
©     
   
Li hatte sich inzwischen mit Mandy angefreundet. Mandy war ein ungewöhnliches Mädchen. Sie fragte nicht, warum er sich ständig bei ihr aufhielt, sie genoss einfach nur seine Gesellschaft. Li erzählte Mandy von Dingen, die er in den vielen Jahrhunderten seines Lebens erlebt hatte. Sie hörte ihm interessiert zu und stellte ab und zu ein paar Fragen. Sie war offen für Li´s Geschichten.
Der Meister hatte sich inzwischen an die Fersen des Todes geheftet. Er beobachtete ihn, versuchte, zu verstehen, wie er dachte – falls er das überhaupt tat und nicht einfach willkürlich handelte.

Dieses Mädchen. Es erinnert mich an meine kleine Marie. Sie hat dieselben schwarzen schulterlangen Haare, die gleichen grünen Augen. Und dieses Lächeln! Oh Marie, warum hast du mich nur verlassen? Hast du es nicht immer gut gehabt bei mir?
Aber dieses Mädchen – Mandy. Wer ist sie? Und warum kann ich nicht von ihr lassen? Warum verfolgt sie mich Tag für Tag, Nacht für Nacht? Ständig sehe ich sie vor mir. Und Marie, Marie will mir nicht aus dem Kopf. Der Schmerz wird schlimmer seit ich dieses Mädchen getroffen habe. Oh Marie, wärst du doch nur nie durch den Spiegel gegangen!

Es geschah ganz unvorhergesehen. Mandy war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Li schlief in ihrem Rucksack. Der Meister war dem Tod auf den Fersen.
Mandy lief wie jeden Tag denselben Weg. Wieder vorbei an einer großen Hecke. Sie dachte nichts Böses und summte vor sich hin. Ein Lied, das sie gerade in der Schule gesungen hatten. Da, erst ganz leise, dann immer deutlicher, war dasselbe Flötenspiel wie schon vor ein paar Wochen zu hören. Mandy blieb stehen. Sie konnte sich nicht rühren. War ganz verzaubert von der wunderschönen Melodie. Doch diesmal hörte Mandy eine Stimme. Die Stimme flüsterte ihren Namen.
„Mandy… Mandy…“ Mandy war wie paralysiert. Sie begann, das Flötenspiel mitzusummen. In der Hecke schimmerte etwas. Bei näherem Hinsehen erkannte Mandy, dass es ein Spiegel war. Er war kreisrund und am Rand hatte er Verzierungen aus angelaufenem Silber. Mandy starrte in den Spiegel, der ihr direkt vor der Nase schwebte. Aber sie spiegelte sich nicht. Sie sah eine große Wiese mit tausenden von bunten Blumen. Kinder spielten auf der Wiese. Sie rannten und spielten fangen. Ein Hund sprang inmitten der Kinder umher. Mandys Augen öffneten sich weit, als sie erkannte, was das für ein Hund war. Es war ihr Hund, ihr Sammy. Sammy war vor einem Jahr von einem Auto angefahren worden. Er hatte es nicht geschafft. Tränen stiegen in Mandy auf. Sie krallte sich mit der Hand in ihren Rucksack. Ein Schluchzer entfuhr ihr. Mandy hatte Sammy sehr gemocht. Er war ihr bester Freund. Ihr einziger Freund.
Sie verbrachte jeden Tag mit ihm. Wenn sie von der Schule nach Hause kam, ging sie gleich mit ihm in den Park.
Mandy starrte wie gebannt in den Spiegel, verfolgte die Kinder mit ihren Augen und sah ihren Sammy.
Das ganze hatte nur Sekunden gedauert. Li wachte von Mandys Händen auf, die sich in ihren Rucksack gekrallt hatten. Was war los? Er hatte doch so schön geschlafen, wollte noch nicht aufstehen. Li kletterte aus dem Rucksack. Er flog an Mandys Schulter. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Situation realisierte:
Mandy, wie gebannt vor einem Spiegel. DIESEM Spiegel! Schreck durchfuhr seinen kleinen Körper. Er musste etwas tun! Und er durfte unter keinen Umständen selbst in diesen Spiegel sehen!
Li flog vor Mandys Gesicht hin und her.
„Mandy! Hallo, Mandy! Schau mich an, sieh nicht in den Spiegel!“ Wild fuchtelte er mit seinen Armen vor ihr herum, doch es nütze nichts. Mandy war wie gebannt von dem Anblick, der sich ihr bot. Ihr Sammy. Ihr Sammy auf der Wiese mit diesen Kindern. Wo war er? Was tat er da? Sie wollte unbedingt zu ihm!
 

http://www.webstories.cc 25.04.2024 - 08:17:10