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Crysella und der Schwarze Mond/Kapitel 14

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©  rosmarin   
   
14. Kapitel
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Vier Wochen waren vergangen. Vier lange Wochen, in denen nichts besonders Aufregendes passiert war. Crysella war ihrer Arbeit nachgegangen, hatte an ihrer Doktorarbeit geschrieben, mit Rudi, Matthias, Will und Gabi telefoniert und es sich in ihrer Wohnung gemütlich gemacht.
Ab und an hatte sie natürlich auch an die verrückte Vollmondnacht mit Otto gedacht und einige Tage in großer Angst gelebt in der Befürchtung, der Mord könnte entdeckt und eine Spur zu ihr gelegt worden sein. Doch als nichts geschah, keine Polizei vor ihrer Tür und auch nichts davon in den Zeitungen stand, beruhigte sie sich wieder. Die Erinnerung verblasste, und die Nacht mit Otto erschien ihr allmählich wie ein böser Traum.
*
Und heute war wieder Vollmond. Groß, rund, golden hing er am Himmel.
Crysella zog die Vorhänge zurück und atmete tief den Duft der Nacht.
„Ich komme“, schrie sie in die Dunkelheit. „Ich komme!“
Heute würde wieder etwas geschehen. Etwas überaus Aufregendes. Das fühlte sie. Nein, das wusste sie. Schnell wickelte sie sich in ihren schwarzen Mantel und verließ die Wohnung. Auf der Jannowitzbrücke blieb sie stehen, beugte sich, wie so oft, über das Geländer, schaute in das dunkle Wasser der Spree, die jetzt, in der Nacht, träge und ruhig dahin floss, und wartete. Plötzlich sah sie den Mann. Aufrecht und stolz ging er an ihr vorüber. Erregt schaute sie ihm nach. Die bekannten, wohligen Schauer liefen ihren Rücken auf und nieder.
„Das ist er“, flüsterte sie. „Das ist er.“ Unauffällig folgte sie dem Mann.

Der Mann drehte sich nicht ein einziges Mal um, während sie kreuz und quer durch die Stadt liefen. Nach einiger Zeit gelangten sie in eine Gegend, die überhaupt nicht ihrem Geschmack entsprach. Die engen Straßen waren schmutzig. Überall lag Unrat. Die Straßenbeleuchtung war mehr als dürftig. Manchmal huschte ein Schatten an den ungepflegten Hausfronten entlang.
Plötzlich blieb der Fremde stehen. Abrupt wandte er sich um, sah direkt in ihre Augen. Seine funkelten wie die eines wilden Katers, starrten grüngelb in ihre. Ja, er war es.
„Komm“, sagte sie. „Man begegnet sich immer zweimal im Leben.“ Sie kicherte. „Die Zeit ist reif.“

Die Erinnerung war da.
*
Es war ein schöner Sommertag. Die Menschen mussten der Stadt, in der zwischen den Häuserschluchten die Luft heiß und stickig stand, entfliehen. Wer konnte und wollte fuhr hinaus ins Grüne. Sie konnte und wollte. Wollte mal alle Fünfe grade sein lassen. In Treptow setzte sie sich in den Biergarten, trank einen Kaffee, verschlang einen riesigen Eisbecher mit viel Früchten und Sahne, schaute dann den Schwänen und Enten auf dem Wasser zu.
Viele Männerblicke wanderten begehrlich über ihren Körper. Es gefiel ihr, wenn sie von ihrem Gesicht tiefer wanderten, hin zu dem knappen roten Top, unter dem ihre üppigen Brüste besonders vorteilhaft zur Geltung kamen, dann zu dem schwarzen Mini, der beim Sitzen immer so hoch rutschte, dass man den Ansatz ihrer Schenkel erblicken konnte, hinunter zu den wohlgeformten Beinen in den roten Schuhen mit den hohen Absätzen. Doch wie immer war kein Mann in der Nähe, der ihr gefallen könnte.
Mit der S-Bahn fuhr sie gegen Abend zurück in die Stadt. Am Alexanderplatz spielten abwechselnd zwei unbekannte Bands auf einer provisorischen Bühne. Von irgendwoher schallte laute Musik aus Lautsprechern. Ein kleiner Mann auf einer Minibühne fuchtelte wild mit den Armen, hielt eine Rede. Es ging wohl um HartzVier. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Suchend schaute sie um sich, starrte inmitten der applaudierenden Menge verwundert in Augen, die sie zu hypnotisieren schienen. Dabei verspürte sie ein unbekanntes, erotisches Kribbeln in ihrem Blut. So wie jetzt. Nur damals wusste sie noch nichts von Liliths Macht. Verbannte sie ins Reich der Träume. Der Phantasie. Die Frau im Spiegel. Lilith. Damals kannten sie sich noch nicht. Hatte sie sich noch nicht erkannt. Es war kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus.

Der Mann sah unverschämt gut aus. Sehr sportlich. Gebräuntes Gesicht. Dunkle, lange Locken. Er lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück, wühlte sich langsam, aber zielsicher, aus der Menge, überquerte den Platz, ging in Richtung Weinmeisterstraße. Wie unter Zwang immer dem Mann hinterher. Getrieben von einer Macht, die stärker war, als ihr Wille.
Der Mann drehte sich nicht ein einziges Mal um. So wie jetzt auch. Lange liefen sie kreuz und quer durch die Stadt. Es war schon dunkel, als sie in eine Gegend gelangten, die eigentlich nicht ihrem Geschmack entsprach. Auf den engen Straßen lag Unrat, die Straßenbeleuchtung war mehr als dürftig. Vereinzelt huschten Schatten an den ungepflegten Hausfronten entlang. Es war das Bild, das sie kannte. Nichts schien sich verändert zu haben. Irgendwann war der Fremde stehen geblieben und wandte sich um. Seine Augen funkelten grüngelb. Wie die eines wilden Katers.
„Komm“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich weiß, was du ersehnst.“
Inzwischen war es stockfinster geworden. Nur die wenigen Straßenlaternen verbreiteten etwas Licht. Vor einem großen, schmiedeeisernen Tor blieb der Fremde stehen. Mit einem riesigen Schlüssel öffnete er eine schwere Tür eines alten Hauses. Sie folgte ihm über den mit groben Kopfsteinen gepflasterten Hof. Vor einem niedrigen Eingang blieb der Mann stehen, griff in ihre langen, damals noch dunklen Haare, wickelte sie um seine rechte Hand.
„Komm“, sagte er, „du bist die Richtige.“ Schnell zog er sie einige Stufen hinunter in einen Keller.
Ihr Herz klopfte wild, ihre Beine zitterten, doch sie blieb stumm und willig. Sie war ihm ja freiwillig gefolgt.
„So, Kleine“, der Mann zog ihren Kopf nach hinten, schaute tief in ihre Augen, „wenn du mir schon hinterher läufst, werde ich es mit dir versuchen.“
Der Mann ließ ihre Haare los. Sie nickte ergeben. Sein Blick brannte auf ihrem Körper.
Der Mann suchte das Schlüsselloch in der schweren Eisentür. Dabei berührte er ihre Hüfte, und ein Beben durchfuhr sie wild und lüstern. Endlich öffnete sich die Tür mit einem lauten Quietschen, durchschnitt gespenstisch die Stille der Nacht. Der Mann drückte die Notbeleuchtung. Sie standen in einem Vorraum. Dahinter war der Keller.
Und nun befiel sie doch ein Gefühl der Panik. Vielleicht hätte sie noch zurück gekonnt. Vielleicht. Sie versuchte es auch, machte eine Bewegung hin zur Tür, reiner Reflex. Doch da war wieder der Griff in ihrem Haar. Ihr Kopf zuckte schmerzhaft nach hinten. Sie konnte nicht entkommen. Es war wohl doch zu spät.
Der Mann fasste ihre Hände, drehte sie mit festem Griff auf ihren Rücken. Etwas zu brutal, fand sie, und seufzte laut auf.
„Wunderschönes Haar hast du", sagte er. "Wie geschaffen für mein Vorhaben.“
„Aber…“
„Kein aber, meine Schöne.“ Er umfasste mit beiden Hände ihre Brüste. „Ich weiß, was du dir in deinen Träumen schon lange erwünscht und erhofft hast. Ich kenne deine Phantasien, deinen Hang zur Unterwerfung. Du willst die Lust und den Schmerz.“ Zur Bestätigung seiner Worte drückte er jetzt fest und hart zu, sodass sie wieder laut aufstöhnte.
Und er hatte Recht. Immer, wenn sie an dieses Erlebnis dachte, stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Der Mann hatte sie erkannt. Sie wollte sich ihm unterwerfen. Sie wollte benutzt werden. Es bereitete ihr höchste Lust, das Weibchen zu spielen. Sie war das Weibchen. Der Mann der Herr. Wie Gott Vater, der Eva das Gehorchen gelehrt hatte. Doch Eva hatte auch auf Lilith gehört und von der verbotenen Frucht gegessen. Und sie hat Lilith nicht erkannt, nachdem sie sich in die Schlange verwandelt hatte. Und bestimmt hatte Gott Vater Angst, dass Lilith zurückkehren und seine Macht erschüttern könnte.
Ach, weg mit diesen Gedanken. Damals jedenfalls wollte sie der männlichen Domäne vertrauen. So, wie sie sich Will unterworfen und ihm vertraut hatte. Und dann Ricardo. Sie wollte es.
„Stell dich gerade hin“, forderte der Mann. „Schau mir in die Augen, kleines Luder.“ Er lachte hämisch. „Und lass die Hände hinter dem Rücken.“
Und natürlich gehorchte sie. Genoss die Lust, gepaart mit Angst. Etwas Angst. Das erhöhte die Spannung.
In dem Gebäude herrschte tiefe Stille. Sie konnten ihren Atem hören, denn auch der Mann atmete jetzt schneller. Schien erregt wie sie, und es überspielen zu wollen. Boshaft kicherte sie in sich hinein. Es gefiel ihr, die Männer lüstern zu machen. Das war tief in ihr drin. Nur damals noch nicht so bewusst.
Der Mann packte sie an den Schultern, drehte sie mit einem Ruck um, stieß sie hin zur Wand. Ihr Gesicht berührte die kalten Steine. Der Mann drückte seinen muskulösen Körper eng an ihren, sie damit fest an die grob gemauerte Wand. Unerwartet leckte er mit seiner Zunge langsam über ihren Hals und sie zuckte erschrocken zurück.
„Wirst du wohl still halten.“
Der Mann drehte ihre schweren Haare zu einem dicken Knoten, zog ihren Kopf etwas nach unten, leckte schmatzend ihren Nacken. Seine linke Hand ertastete wieder ihre Brüste, und sie stöhnte auf. Der Kerl spürte ihr Verlangen, drehte sie ruckartig zu sich, stand jetzt nah vor ihr, beugte seinen Kopf, leckte genüsslich über den Ansatz, und sie erbebte unter dieser Berührung, drängte ihren Körper seinem entgegen. Da ließ er von ihr. Ging einen Schritt zurück, betrachtete sie aufmerksam, kam wieder näher, hob mit zwei Fingern ihr Kinn, presste seinen Mund fest auf ihre Lippen, dass sie meinte zu schweben. Mit beiden Händen griff er zwischen ihre Schenkel, grob und gezielt.
„Wirst du wohl ruhig stehen bleiben“, herrschte er sie an, als sie instinktiv etwas zurück wich. „Geiles Luder.“ Sie stöhnte lauter, fügte sich seinen Händen, öffnete ihre Schenkel, passte sich den fordernden Bewegungen an, spürte schaudernd ihre Nässe an ihren Schenkeln herunter laufen. „Wusste ich es doch“, knurrte er, „du stehst drauf.“ Grob stieß er sie in die Dunkelheit des Kellers.
*
Alles war wie damals, in dieser schwülen Sommernacht. Doch jetzt war sie nicht mehr die gehorsame Eva.Jetzt hatte sie die Macht. Jetzt würde dem Mann Hören und Sehen vergehen. Sie kicherte hexisch.
„Und jetzt will ich in deinen Keller.“ Übermächtig schoss das Verlangen in ihr Blut. „Öffne die Tür.“
Der Mann holte den ihr bekannten großen Schlüssel aus der Tasche seines weiten, schwarzen Umhangs über den Jeans, steckte ihn in das Schloss, drehte ihn zweimal nach rechts, drückte auf die geschmiedete Klinke. Knarrend öffnete sich die Tür. Sie standen in einem Raum, der so gar nichts mit ihren Erinnerung an den Keller, in dem der Mann sie das Heulen, das Lustheulen, gelehrt, zu tun hatte.
Damals hatte sie in dem Keller nur eine einfache Holzliege mit einer schwarzen Ledermatratze erkennen können, auf die sie der Kerl, sofort, nachdem die schwere Tür zugeknallt war, gestoßen hatte.
„So“, hatte er gedroht, „jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben“, und ihr mit einem schwarzen Tuch die Augen verbunden. „Und nun halt still.“
Und sie hatte still gehalten. War diesem Mann gefügig gewesen. Wie keinem zuvor. Erst im Morgengrauen hatte er sie, erschöpft aber irgendwie glücklich, in einen schwarzen Jeep gestoßen und nach Hause gefahren. Und sie wusste, sie würde ihm wieder begegnen.Irgendwann. Man sieht sich immer zweimal im Leben, heißt es doch so schön.

Und nun befand sie sich wieder hinter dieser schweren Kellertür. Der nicht sehr große Raum war rund. Die Wände verkleidet mit rotem Samt. Die gewölbte Decke bestand aus Glas. Ebenso der Fußboden. Und genau in der Mitte dieses gläsernen Rondells führte eine hölzerne Wendeltreppe in einen Turm. Weihrauchduft füllte die Luft, nahm Crysella fast den Atem.
Erstaunt, überrascht, fasziniert, betrachtete sie das einzige Möbelstück, das rechts neben der Wendeltreppe stand. Ein antikes Tischchen von seltener Schönheit, bedeckt mit einem bunten Seidentuch. Darauf standen Döschen und Fläschchen mit Duftölen, Seifen, Kerzen, Wässerchen. Und dazwischen glänzten und glitzerten exotische Steine, Ketten, Armbänder, Kreuze und eine Unmenge anderer geheimnisvoller Dinge in magischer Schönheit. Sie stand wie erstarrt. All dies erinnerte sie plötzlich an den Matthiastraum. Matthias seltsame Begehren. Die vier Folterknechte. Und an die Hexe Vanessa. Den esoterischen Laden mit der Wendeltreppe.

„Ich sehe Unheil. Blut. Verderben.“

Erschrocken fuhr sie zusammen. Vanessa. Verdammte Hexe.

„Mein Heiligtum.“ Der Mann zog Crysella fest an sich, sah tief in ihre hellen Augen. „Möchtest du etwas trinken?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, schritt er zu dem Tischchen, goss eine rote Flüssigkeit in einen bereitstehenden Opal, hielt ihr ihn hin. „Trink“, forderte er sie auf. „Du wirst dich in einer wundersamen Welt wieder finden.“
Schon nach den ersten Schlucken dieses nach Zimt, Sander, Muskat und anderen orientalischen Gewürzen schmeckenden Getränks fühlte sich Crysella leicht und beschwingt, lächelte den Mann erwartungsvoll an.
„Du bist wunderschön“, flüsterte sie erregt. „Es wird Zeit, dass ich dich einweihe in das Geheimnis meines Mysteriums.“ Mit ihren Lippen berührte sie das Gesicht des Mannes, küsste ihn auf die Augen, die Wangen, die Stirn, den Mund, verbarg dann ihr Gesicht an seiner weißen Brust unter dem weiten, schwarzen Umhang, koste die glatte, seltsam kühle Haut. Sie hatte ihn erkannt, wusste in diesem Augenblick, welcher Gattung Wesen er angehörte. „Es birgt die abgründigen Geheimnisse aller Geschöpfe“, sprach sie Vanessas Worte. „Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, ihr eigenes Geheimnis, ihre Zukunft zu erahnen. Ich bin auserkoren, dir dabei zu helfen. Komm.“
Der Mann hatte keine Zeit, über diese rätselhaften Worte nachzudenken. Willig folgte er Crysella, beeindruckt vom Klang ihrer zärtlich flüsternden Stimme, zu der Wendeltreppe, stieg langsam mit ihr hinauf, höher, noch höher.
„Mein Name ist Horus“, sagte er, oben angelangt. „Das ist das Turmzimmer.“
Horus. Aha. Crysella lächelte wissend. Der Bruder von Seth also. Ihrem ehemaligen Nachtgemahl. Noch so ein verrückter Gott. Der, der mit Seth kämpfte und gewann. Der, der von den Göttern als der rechtmäßige Sohn des Osiris, dem Totengott, und Isis, der Sonnengöttin, anerkannt wurde, obwohl Seth ihm außereheliche Geburt vorgeworfen hatte. Doch sei es wie es sei. Sie konnte nichts mehr erschüttern. Sie wusste, was zu tun war. Neugierig schaute sie sich um. Auch in diesem Zimmer waren die Wände verkleidet mit rotem Samt, der Fußboden verspiegelt. Die gewölbte Decke aus Spiegelglas. Doch hier glich sie eher der Kuppel eines Kirchturms.
Sanft erhellte das Licht des Vollmonds den Raum, fiel direkt auf eine breite Liege, die in der Mitte stand, umgeben von übergroßen, schwarzen Altarkerzen. Von irgendwoher ertönte leise Musik. Und auch hier roch es berückend nach Weihrauch. Plötzlich verstummte die Musik. Doch nur einen Moment, und die Sethmusik ertönte. Und wieder musste Crysella tanzen. Es war wie ein Ritual. Die Musik erklang. Die Sethmusik. Und sogleich bewegte sich ihr Körper wie von selbst.
*
Crysella tanzte zu der ungewöhnlich geheimnisvollen Musik. Ihr Körper schien sich ohne ihr Zutun zu bewegen, zu verschmelzen im Rhythmus dieser lieblichen Töne. Immer machtvoller erklang die Musik, mysteriöser, magischer. Wie von selbst glitten ihre Hände über ihren Körper. Berührten ihre Brüste. Verharrten an den sich immer mehr erigierenden rosigen Warzen. Streichelten langsam über ihren Bauch. Verharrten zwischen den leicht geöffneten Schenkeln. Streiften ihr kurzes rotes Hemd herunter, griffen wieder in ihr volles, braunes Haar. Berührten sanft ihr Ohr. Anmutig neigte sie ihren Kopf und tanzte einen imaginären Schleiertanz. Immer schneller drehte sie sich im Kreis. Schneller. Wilder. Sehnsüchtiger. Bald hatte sie alles um sich herum vergessen, ergab sich willig der Musik. Zärtlich und leidenschaftlich. Und ihr Körper, dessen Bewegungen mit den lieblichen Tönen zu verschmelzen schienen, wand sich schlangengleich. Ihr schien, als tanze sie zu den im Nebel der Zeit verborgenen Inseln des Glücks und ein süßes Ziehen erfasste all ihre Sinne.
*
Plötzlich verstummte die Musik. Crysella erstarrte in der Bewegung. Wie eine Puppe, der man den Schlüssel aus der Spieluhr gezogen hat.
Auch Horus stand wie erstarrt. Fasziniert hatte er der tanzenden Crysella zugeschaut. Der Fledermausmantel hing lässig auf seinen Schultern; die langen, schwarzen Haare bedeckten fast die Hälfte seines Gesichts, so dass nur ein funkelndes Auge zu sehen war. Wie bei dem ägyptischen Fabeltier. Dem Horusfalken, oder dem Falkenhorus. Der auf einem Auge erblindet sein soll.

Fast gleichzeitig lösten sie sich aus der Erstarrung. Horus zauberte zwei Pokale, gefüllt mit einer roten Flüssigkeit, unter seinem weiten Umhang hervor und prostete Crysella zu.
„Auf diese Nacht.“
„Auf diese Nacht.“
Crysella trank. Horus trank. Alles war klar. Das Getränk schmeckte wie das schon getrunkene. Horus nahm Crysella auf seine Arme, trug sie auf die breite Liege. Kichernd zog sie ihre Knie zum Kinn.
‚Wie schamlos‘‚ dachte sie und lachte.
Bestimmt würde Seth ihr zusehen. Seth. Ihr Nachtgemahl. Den sie gleich wieder betrügen würde. Neulich mit Otto. Heute mit Horus. Seinem Bruder.
Horus zündete die schwarzen Kerzen an, kniete sich dann vor Crysella, deren Knie sich öffneten und schlossen wie die Flügel eines Schmetterlings. Seine Hände streichelten Erfahrung. Stöhnend verkrallte sie sich in sein langes, seidiges Haar, starrte an die gewölbte Kuppeldecke, die plötzlich aufbrach, sich teilte in unzählige Furchen.
„Wie die Scholle beim Pflügen“, flüsterte sie.
„Eine Urhöhle“, flüsterte Horus zurück. „Eine Urhöhle, die sich weitet, weitet, zusammenpresst, ausbreitet, pulsiert, schließt, wieder und wieder, im gleichmäßigen Rhythmus.“
Alles um Crysella herum begann sich zu drehen. Die mit dem dicken, roten Samt verkleideten runden Wände waren plötzlich pochendes, schwellendes, vaginales Material, geschmückt mit Hunderten von Brüsten; klebrige Flüssigkeit tropfte von ihnen, formte sich zu immer bizarreren Gebilden, die, kaum, dass sie Ausdruck angenommen hatten, zerflossen, erstarrten, sich neu formten, um gleich darauf wieder zu zerfließen in unendliche Unendlichkeit. Wieder und wieder. Ein nicht fassbares Chaos.
„Du bist schon eine tolle Frau.“ Unverhofft biss Horus in Crysellas Hals. „Wenn ich bedenke, wie du vor zehn Jahren warst.“
„Wie denn?“
„Ein Kind. Ein unschuldiges Kind, mit Augen, in denen der Teufel steckte.“
Wieder biss Horus zu.

„Ich bin alles.“ Liliths Stimme. „Kind. Mutter. Alte Frau. Der Dreierzyklus. Werden. Wachsen. Vergehen.“

Erschauernd spürte Crysella eine wundersame Süße in ihrem Blut. Ihr Körper wurde leicht, fast schwerelos, sie begann zu schweben. Die nochmals aufgebrochene Kuppeldecke spiegelte ein verschlungenes Bild. Das Paar im Spiegel wand sich in wollüstigen Posen, während die angenehme Süße in ihrem Leib sich mehr und mehr dehnte, sie mit Horus hinein in die Dunkelheit flog.
„Jetzt gehörst du mir“, sagte Horus mit seiner angenehm rauen Stimme. "Jetzt. Und in alle Ewigkeit.“ Sein weißes, mit ihrem Blut verschmiertes Gesicht war dicht über ihrem. „Unsterblich bist du nun. Meine Gemahlin. Geliebte. Fürstin der Finsternis. Der großen Mutter ebenbürtig.“
„Nein!“ Entsetzt starrte Crysella auf Horus’ lange Eckzähne, die verführerisch im Spiegel der Decke erglänzten. „Es ist ein Spiel. Ein irres, ein total verrücktes Spiel. Ein Vollmondfrauspiel.“
Mit letzter Kraft kroch sie unter Horus’ Leib hervor, setzte sich mit einem Ruck auf ihn, hackte wütend ihre schönen, weißen, glänzenden, langen Zähne in seinen schlanken, weißen Hals, schmeckte wollüstig sein Blut, das das ihre war, auf ihren Lippen, in ihrem Mund, und Kraft pumpte pulsierend durch ihren Körper.
Horus verfiel mehr und mehr, war nicht mehr fähig, sich zu bewegen. Sie hatten die Rollen vertauscht. Zärtlich küsste Crysella Horus‘ immer blasser werdenden Mund, saugte dann die letzten Blutstropfen aus seinem Hals.
Ein Mondstrahl fiel ins Zimmer. Horus lächelte erleichtert, seine Energie schien sich zu erneuern. Mit einem Fluch auf den blassen Lippen, stieß er Crysella beiseite, stand ruckartig auf,eilte zu der mit dem roten Samt verkleideten Wand. Eine geheime Tür, die sie vordem nicht bemerkt hatte, und die der Form eines Kreuzes glich, öffnete sich wie durch Zauberhand.
„Das Licht des Vollmonds erweckt die Toten!“
Laut auflachend stürzte sich Horus in die Tiefe.

Wie betäubt taumelte Crysella von der Liege. Hinter der Samtwand entdeckte sie eine schmiedeeiserne, niedrige Brüstung.
Horus lag unbeweglich auf dem Rücken vor dem Haus auf der schmutzigen Straße, die Arme ausgebreitet. Wunderschön sah er aus. Wie er so dalag. Im gleißenden Licht des Vollmonds. Überirdisch schön.
Ein Mondstrahl irrte auf seiner weißen Brust, kroch langsam höher, erreichte sein Gesicht.
Plötzlich erhob sich Horus und hastete schwankend in Richtung Stadt.

Crysella wankte auf die Straße, winkte einige Straßen weiter einem Taxi. Bestimmt hatte Horus eine Droge in das Getränk getan. Oder sie war verrückt. Oder alles war ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem sie sofort erwachen musste.
Zu Hause angelangt, eilte sie ins Bad. Eine fremde Frau starrte ihr aus dem Spiegel entgegen, die langen, roten Locken zerzaust, das Gesicht weiß, die Lippen blass. Dazwischen glänzten zwei Reihen wunderschöner langer, weißer, spitzer Zähne.
Entsetzt taumelte sie aus dem Bad in ihr Zimmer. Vor dem Computer stand ein Glas Wasser. Darin schwamm Ottos Penis. Aus der Spitze ragten verführerisch zwei lange Zähne. Sie lachte hysterisch. Rannte zurück ins Bad. Bleckte vor dem Spiegel ihre langen Zähne.
„Ich brauche Blut“, schrie sie. „Viel Blut! Unendlich viel Blut!“

Der Wahnsinn hatte seine Krallen nach ihr ausgestreckt, trieb sein teuflisches Spiel.Verzweifelt sank sie auf die kalten Fliesen, verbarg ihr Gesicht in den Händen, schluchzte wie ein Kind. Ein kleines, verlassenes Kind. Und sie hoffte, ihr bliebe noch eine kurze Frist schöpferischen Schmerzes.

***

Fortsetzung folgt in diesem Theater
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 01:29:20