... für Leser und Schreiber.  

Lillis Sommer/1

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©  rosmarin   
   
Wie versprochen, ist dies die überarbeiete Form.
EINFÜHRUNG

Lilli braucht Abstand von ihrem Freund Eddi. So nimmt sie das Angebot ihrer Mutter, einige Monate in Argentinien in Villa Gral. Belgrano zu verbringen, an. Auch Bruder Karl fliegt mit. Das Abenteuer beginnt schon im Flugzeug, denn sie verpassen in Madrid die Maschine nach Buenos Aires und landen erst einen Tag später. Schon bald verliebt sich Lilli in das wundersame Land Argentinien.

Lillis Sommer

1. Kapitel

„Ich liebe dich. Ich liebe dich“, murmelte Eddi überwältigt vom Trennungsschmerz.
Lilli saß neben Eddi im Auto auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld.
„Ist gut, Eddi“, erwiderte sie ungeduldig, mit ihren Gedanken schon in den Lüften, „ich komme ja bald zurück. Drei Monate vergehen schnell.“
Eddi war so ein richtiger Quälgeist. Wie eine Klette hing er an ihr, raubte ihr fast die Luft zum Atmen. Diese Auszeit würde ihnen, besonders ihr, bestimmt gut tun. Danach würde sie entscheiden, ob ihre Beziehung überhaupt eine Zukunft haben könnte. Immerhin kannten sie sich jetzt fast ein Jahr.
„Für dich, ja“, schmollte Eddi, „ich muss hier bleiben. Du erlebst was. Da vergeht die Zeit natürlich schnell. Aber für mich wird es wieder stinklangweilig. Arbeiten. Essen. Fernsehen. Arbeiten. Essen. Fernsehen. Schlafen. Grauenhaft.“
Eddi hatte Lilli geholfen, die Reise, zu der sie sich erst im letzten Moment entschlossen hatte, zu organisieren, die Flugtickets besorgt und einen rosenbedruckten Reisekoffer im Kaufhof kurz vor Ladenschluss gekauft. Doch wenn sie es richtig bedachte, hatte Erwin den letzten Anstoß gegeben.
„Flieg doch mit“, hatte er gedrängt. „Wer weiß, wann sich wieder so eine Gelegenheit bietet. Mach doch deiner Mutter diese Freude. Wer weiß, was nächstes Jahr ist. Die Zeiten sind doch so unsicher. Und dein Bruder Karl fliegt doch auch mit. Als männlicher Beschützer sozusagen. Es wird bestimmt schön für euch. Ich gönne es dir. Und auf deinen Eddi passe ich auf.“
Ach Erwin. Lilli wusste, dass er in sie verliebt war. Trotz des Altersunterschiedes. Für seine Gefühle kann man ja nichts. Und Liebe oder Verliebtsein hat nichts mit dem Alter zu tun. Doch für sie war er ein väterlicher Freund. Ein Arbeitskollege. Ein ganz und gar zuverlässiger. Ein Mitbewohner. Gleich nach der Wende, also vor gut drei Jahren, waren sie zusammengezogen und lebten in so einer Art WG. Auch arbeitsmäßig waren sie ein gutes Team. Bei einer seriösen Detektei. Versteht sich. Abteilung Wirtschaftskriminalität. Und das sollte auch so bleiben.
Erwin musste zur Arbeit und hatte sich schon zu Hause von Else und ihr verabschiedet.
„Macht’s gut“, hatte er leise gesagt, „kommt gesund zurück.“
Wenn es ihm weh getan haben sollte, Lilli so mit Eddi zu sehen, der seit Tagen keinen Schritt von ihrer Seite wich, konnte er es auf jeden Fall gut verbergen.
Auf dem Flughafen herrschte die übliche Hektik. Karl war schon da und verwickelte Else sofort in einen Disput über die Sicherheit des Fliegens.
„Was ist, wenn wir entführt werden?“, fragte er provokant. „Wenn so ein paar Verrückte oder Terroristen dem Piloten ein Messer an die Gurgel halten. Hast du keine Angst?“
Else lächelte weise. In ihrem Alter konnte man das. Gelassen setzte sie den grauen Filzhut, ein Geschenk von Lilli, auf ihre roten Dauerwellenlocken, schob den Wagen mit dem großen Reisekoffer vor sich her und sagte fröhlich:
„Ach, wisst ihr, ich bin schon so oft geflogen. Und nichts ist passiert. Man wird ja überall kontrolliert. Und wenn doch etwas in der Art passieren sollte, ist es eben Schicksal.“
„Ich will so ein Schicksal nicht“, sagte Lilli, „mir ist schon etwas mulmig. Ich fliege ja sowieso nicht so gern.“
„Ich liebe dich.“ Eddi zog an Lillis Arm. „Vergiss das nicht. Und das auch nicht.“
Eddi öffnete Lillis Reisetasche, legte sein altes wertvolles Fernglas obenauf, zog den Reißverschluss wieder zu und drückte einen heißen Kuss auf Lillis Mund.
*
Der Aufflug kam plötzlich, mit einem Ruck, verursachte Schreck und Übelkeit. Und dann waren unsere drei Helden in den Wolken und alles um sie herum in unwirkliches Weiß gehüllt. Traumhaft schön. Und zwischen den Wolken war auch alles weiß, weiß, wie Watte, weiß wie unberührter Schnee.
Lilli konnte sich nicht satt sehen. Für sie war es wie ein Wunder. Sie war noch nicht oft geflogen. Nur zweimal mit so einer kleinen lauten Maschine nach Prag. Jetzt blickte sie begeistert durch das kleine runde Fenster. Die Maschine stieg noch immer. Das glänzende Weiß wurde golden überstrahlt von einer riesigen unsichtbaren Sonne. Märchenhaft.
Nur die Geräusche störten unangenehm ihre empfindlichen Ohren.
Else und Karl schien es nichts auszumachen. Karl freute sich wie ein kleines Kind und sog gierig die Schönheit des Himmels in sich auf. Es war sein erster Flug.
Else genoss den herrlichen Anblick auf ihre Weise. Immer wieder erzählte sie enthusiastisch von ihren anderen Flügen, die sie rund um die Welt geführt hatten. Insgeheim beneidete Lilli sie ja. Elses Träume starben nie. Und sie liebte das Fliegen über alles. Sie, Lilli, konnte nicht sagen:
„Nur Fliegen ist schöner.“
Sie dachte an Eddi. An die Liebe mit ihm. Die fantastische. Zügellose. Manchmal zu aufdringliche. Dagegen war Fliegen gar nichts.
*
Endlich landete die Maschine in Madrid.
„Jetzt können wir fünf Stunden auf den Flug nach Buenos Aires warten“, maulte Karl. „Da mutiere ich ja zum Kettenraucher.“
„Da gibt es nichts zu mutieren.“ Lilli kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Tagebuch. „Das bist du doch schon dein halbes Leben lang.“
„Nun streitet euch doch nicht schon wieder“, sagte Else etwas genervt. Lasst lieber euren Kaffee nicht kalt werden und esst die schöne Sahnetorte auf. Und übrigens sind es sieben Stunden und keine fünf.“
„Noch besser.“ Karl ließ ein silbernes Feuerzeug schnappen und steckte sich genüsslich einen Glimmstengel in den Mund. „Schreib ja nichts über mich.“ Drohend sah er Lilli an. „Sonst musst du meine Torte auch noch essen.“
„Keine Angst. Alles im grünen Bereich.“
Lilli zückte ihren Kugelschreiber.
*
Wir sind in Madrid. Sitzen fest auf dem riesengroßen Flughafen. Haben keine Peseten. Niemand spricht deutsch. Gehetzt laufe ich mit dem deutsch-spanischen Wörterbuch, das ich noch im letzten Moment am Kiosk auf dem Flughafen Schönefeld gekauft habe, herum und radebreche, indem ich auf die Wörter zeige, irgendwelche unverständlichen Laute. So haben wir wenigstens herausgefunden, wo wir unser Gepäck lassen können. Mein Handgepäck ist schwer. Mein Bruderherz zu faul zum Tragen. Und kein Gentleman. Eddi wäre einer. Ich vermisse schon jetzt seine Aufmerksamkeiten. Er hätte mich nie etwas tragen lassen. Lieber hat er sich selbst bepackt wie ein Maulesel. Die Schließfächer befinden sich außerhalb des Flughafens, sicher abgesichert. Und Madrid ist kilometerweit entfernt vom Flughafen. Per pedes kommen wir also nirgends hin und müssen so die lange Zeit bis zum Weiterflug nach Buenos Aires, es sind sieben Stunden, in so etwas ähnlichem wie einem Café verbringen.
Peseten haben wir inzwischen eingewechselt und uns etwas zu Essen gekauft. So sitzen wir wie angenietet in dem Café. Mutti sieht aus wie eine reiche Spanierin mit ihrem sonnengegerbten, fröhlichen Gesicht und dem hellblauen Filzhut auf ihrem roten Haar und dem Modeschmuck, der überall an ihr herumbaumelt. Neuerdings hat sie ein Faible dafür. Karl, lässig eine Zigarette nach der anderen rauchend, sieht aus wie James Bond. Und ich wie Yvon aus der Olsenbande, mit grauen Leggins und einem dazu passenden Mantel, den ich in der Taille mit einem breiten, schwarzen Ledergürtel zusammengehalten habe, und den schwarzen Siebzigerjahre Lackschuhen mit der großen Schnalle. Ein Bild für die Götter. Hahahaha…-
Ich kann nicht sagen: Nur Fliegen ist schöner.
*
Lilli schloss ihr Tagebuch und widmete sich dem nun tatsächlich kalten Kaffee und der Sahnetorte.
Sie saßen in einem kleinen Bistro auf dem Flughafen und erzählten sich lustige Anekdoten aus ihrem Leben, um sich so die lange Wartezeit zu vertreiben. Zwischendurch musste immer wieder einer von ihnen ganz dringend die Toilette aufsuchen oder lief neugierig die langen Gänge entlang. So verging die Zeit.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Karl irgendwann.
Else sah auf ihre Glitzeruhr und sagte: „Zehn Uhr.“
„Genau. Zehn Uhr“, bestätigte Lilli, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf ihre Glitzeruhr geworfen hatte. „Zweiundzwanzig Uhr.“
„Dann wird es ja langsam Zeit für uns.“
Karl drückte seine Zigarette im Ascher aus und stand auf. Else und Lilli schlenderten hinter ihm her zum Transitraum.
In der Pass- und Zollkontrolle wurde Karl mehrmals zurückgeschickt, weil immer etwas nicht Ordnung war. Was konnte niemand sagen. Jedenfalls piepte es immerzu, wenn er die Kontrolle passieren wollte. So dauerte es seine Zeit, bis sie endlich abgefertigt waren.
„Was hat denn bei dir so gepiept?“ Lilli tippte Karl an die Stirn. „Piep. Piep.“
„Kleingeld“, witzelte Karl und tippte Lilli an die Stirn. „Piep. Piep.“
Sie lachten übermütig und schlenderten weiter. Sie hatten ja noch so viel Zeit bis zum Weiterflug. Plötzlich sahen sie eine Uhr an der Wand. Die Zeiger leuchteten provozierend.
„Guckt mal“, sagte Karl ganz ruhig, „was ist denn das?“
„Eine Uhr“, lachte Lilli.
„Eine Uhr.“ Karl war ruhig und gefasst. „Und guckt mal genau hin, wie spät ist es auf dieser Uhr?“
Lilli und Else guckten genau hin und staunten. Na, so was. Es war genau eine Stunde später, als es sein sollte.
„Das Flugzeug!“, rief Else. „Schnell. Beeilt euch.“
Doch noch bevor sie sich beeilen konnten, rannte ihnen aufgeregt ein Fünfmannpersonal entgegen, kontrollierte schnell ihre Tickets, beeilte sich, nachzusehen, ob die Maschine noch stand.
Karl, Else und Lilli liefen so schnell sie konnten hinter ihnen her. Doch es half nichts. Die Maschine stand nicht mehr. Sie schwebte hoch in den Lüften. Ohne sie. Einfach so. Aus der Traum. Was nun?
An keiner Auskunftsstelle wurde deutsch gesprochen, und das bisschen Spanisch, das Lilli gerade gelernt hatte, war vor Schreck vergessen. Wie verloren standen die drei in einer riesigen Halle in einem fremden Land. Ausländer.
Karl und Else machten sich gegenseitig Vorwürfe, nicht aufgepasst zu haben.
„Nie wieder unternehme ich was mit euch“, versprach Karl immer wieder. „Nie wieder.“ .
„Hört endlich auf damit!“ Lilli war nun auch echt wütend. „ Euer Gezanke hilft uns auch nicht weiter. Überlegt euch lieber, wie es weitergehen soll.“
Lilli versuchte, ihre kärglichen Schulenglischbrocken hervorzukramen. Viele waren es nicht. Sie hatte ja zwei Jahre englisch gehabt, aber nicht viel gelernt. In der DDR brauchte man kein Englisch. Russisch war viel wichtiger. Dafür hatte sie sieben Jahre Zeit und konnte dementsprechend ganz passabel damit umgehen. Aber jetzt nützte es ihr gar nichts.
Endlich gelang es Lilli, dem jungen Mann an der Information verständlich zu machen, worum es ging. Er schickte sie wieder nach oben in den Transitraum zum Service. Und hier fand sich endlich einer, der deutsch sprach. Welch Erlösung. Lilli schwor, nie wieder in ein Land zu reisen, dessen Sprache sie nicht wenigsten etwas beherrschte. In Argentinien würde sie Spanisch lernen. Englisch wäre natürlich noch wichtiger. Jetzt, da man reisen konnte, wohin man wollte. Na, mal sehen.

Der deutsch sprechende Spanier hörte sich die verworrene Geschichte geduldig an und handelte. Er besorgte neue Tickets für den nächsten Tag um die gleiche Zeit und ein Auto, das sie zu dem Hotel Villja de Barajaß brachte. An der Rezeption empfing sie eine junge hübsche Spanierin, die nur spanisch sprach. Lilli benutzte wieder ihr Wörterbuch.
Karl und Else teilten sich ein Doppelzimmer. Lilli bekam eines für sich allein. Die Zimmer waren sauber, mit Dusche, Telefon, Fernseher. Zu essen gab es leider nichts mehr. Zu trinken auch nicht. Die Bar war geschlossen. Doch ein Eisschrank war offen. So begnügten sie sich mit einigen Eis.
Es war zwei Uhr in der Nacht. Lilli kramte ihr Schreibzeug aus der Reisetasche, setzte sich an den Tisch und schrieb Eddi einen langen Brief. Bestimmt würde er sich köstlich amüsieren über ihr Missgeschick. Vielleicht auch nicht. Er war ja Verrücktes gewohnt von ihr. Nur hier konnte er nichts gerade rücken. Hier gab es ihn nicht. Nur in ihren Gedanken.
Lilli legte sich in das weiß bezogene Bett, das lila Kuschelherzkissen, ein Geschenk von Eddi, unter ihrem Kopf, in der Hand das Äffchen, und schlief ein. Kurz nach sechs Uhr weckte sie lautes Klopfen. Vor der Tür stand Karl. „Aufstehen! Aufstehen!“, rief er überlaut. „Frühstücken! Frühstücken!“
„Ach, nein. Es ist doch noch so früh. Verschwinde, Karl!“
„Aufstehen. Frühstücken!“
Da half kein Bitten. Und kein Flehen. Karl war unerbittlich. Lilli musste raus aus den Federn. Karl war schon immer ein Frühaufsteher gewesen. Und er hatte ja recht. Frühstück musste sein. Und Mittagessen auch.
Der Fahrer, der sie in der Nacht in das Hotel gebracht hatte, fuhr sie wieder zum Flughafen. Pünktlich saßen sie dann in der großen Iberia in der ersten Fensterreihe, gleich hinter dem Personal. Nur einen Tag später.
Diesmal vollzog sich der Aufstieg sanfter als in der kleinen Maschine. Wieder bestaunten sie kindlich das Wunder Himmel. Wunderschön sah es aus, wenn sich die Sonne immer wieder golden durch die Wolkenberge stahl, plötzlich verschwand, um dann sofort wieder hinter einer Wolke aufzutauchen. Es schien, als würde sie sie necken und mit ihnen Verstecken spielen zu wollen.
Das Flugzeug schlingerte durch ein Sturmtief. Die Stuarts forderten die Passagiere freundlich auf, sich vorsichtshalber anzuschnallen. Die Passagiere folgten aufs Wort. Die Maschine schaukelte durch schwarze Wolken über den Atlantischen Ozean. Echt gruselig. Da hatte niemand vor, mit einem Absturz sein Leben zu beenden. An die Sitze gekettet, geschnallt, schliefen Else und Karl und Lilli nach einiger Zeit beruhigt ein. Als sie erwachten, empfing sie ein herrlich romantischer Sonnenaufgang über den Wolken. In unbeschreiblicher Schönheit erstrahlte die Sonne in allen Farben über den weißen Watteschneewolkenbergen.
Nach einem guten Frühstück landete die Maschine pünktlich elf Uhr dreißig argentinischer Zeit in Buenos Aires. Allerdings einen Tag später als geplant.
„Unfassbar!“ Lilli reckte sich fröhlich. „Der reinste Wahnsinn. Südamerika. Wir sind in Argentinien. Ist das heiß hier. Hurra!“
Nicht in ihren fantastischsten Träumen hätte Lilli sich träumen lassen, einmal hier zu landen. Auf einem anderen Erdteil. In Südamerika. Und es war kein Traum. Es war ein Wunder. Und es war Sommer. Und in Berlin war es Winter. Und bitterkalt.

***

Fortsetzung Kapitel 2
 

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