... für Leser und Schreiber.  

Sünde einer Nacht/4 und Schluss/erotische Geschichte 11

319
319 Stimmen
   
©  rosmarin   
   
- 4 -
_______
So zwischen Traum und Wachen wühlte ich mich aus kurzem Schlaf. Die Nachwehen der vergangenen weinseligen Liebesnacht zeigten ihr Gesicht, machten sich unangenehm bemerkbar.
Mein Kopf fühlte sich an wie ein Wasserballon, der jeden Augenblick platzen könnte. Das Bett schwankte und schlingerte. Haltsuchend tastete ich zum Kissen neben mir. Oh, Schreck, es war leer. Kein Siggikopf zu fühlen. Mit einem Ruck setzte ich mich auf.
Wohin war mein Bernstein? Hatte er sich etwa auch aus dem Staub gemacht? Wie damals Apoll.

Nackt, wie ich war, sprang ich vom Bett. Ich merkte erst jetzt, dass der Fernseher lief. Mitten in der Nacht. Wir hatten ihn doch gar nicht angeschaltet. Und woher kam denn der Krach?
Schnell lief ich zum Fenster. Öffnete es. Kühle Nachluft strömte in das Zimmer. Ungewohnter Lärm drang herauf. Menschen standen auf der Straße. Lachten laut. Fröhlich. Hektisch.
Und dann vernahm ich Worte. Fetzen eines Gassenhauers.
Ich lauschte. Ein Lied. Und die Menschen sangen dazu. Tanzten sogar. Hielten sich an den Händen und tanzten.
„So ein Tag, so wunderschön wie heute.…“

„Was ist los?“, rief ich, wieder in das Zimmer gewandt. „Warum grölen die Leute mitten in der Nacht das blöde Lied?“
Keine Antwort.
„Und warum läuft der Fernseher?“
Da erblickte ich Siggi. Nur mit einem Handtuch um die Hüften kam er aus dem Bad.
„Schau es dir ruhig an“, sagte er mit vorwurfsvoller Stimme, „es ist der helle Wahnsinn.“
„Was ist denn los?“
Siggi drehte den Tonknopf und ich starrte freudig entsetzt in den Fernseher.
„Ist das ein neuer Film?“
Was ich sah, konnte nicht wahr sein.
‚Bestimmt bin ich das Opfer einer Halluzination‘, dachte ich. ‚Ich darf nichts mehr trinken.‘
„Es ist die Realität“, sagte Siggi mit einer ungewohnt traurigen zittrigen Stimme. „Kein neuer Film.“
Die Realität? Warum freute sich mein Bernstein dann nicht? Wenn es die Realität war, könnte er doch jetzt, in diesem Moment, auch aufspringen und tanzen und singen und lachen. Ein Traum aller Deutschen wäre in Erfüllung gegangen.

Noch vor einigen Wochen hatte Uschi mich bei einem Spaziergang entlang der Mauer gefragt:
„Was meinst du, werden wir es noch erleben, dass diese verdammte Mauer endlich verschwindet? Dass wir ganz normal über die Straßen laufen können. In den Geschäften einkaufen. Die herrlichsten Dinge, wie im Intershop. So wie damals. Vor dem Mauerbau. Meine Mutter erzählt noch oft davon.“
„Damals gab’s noch keine Intershops“, erwiderte ich altklug. „Die hat Honecker eingeführt, wegen der Anerkennung.“
„Ja“, stimmte Uschi zu, „und die Westmark. Wegen der Ungleichheit.“
„Wie wahr. Unter Ulbricht soll alles viel besser gewesen sein. Keinen Neid soll es gegeben haben. Keine Unterschiede zwischen Arm und Reich. Alle waren gleich.“
„Und wer in die Partei gegangen ist, tat es aus Überzeugung.“
„Das stimmt“, sagte ich überzeugt. „Honecker hat ja dann auch die Privilegien für die Parteimitglieder eingeführt. Und damit den Neid.“
„Und wenn eines Tages die Grenzen geöffnet werden sollten, was wir uns ja nicht einmal im Traum vorstellen können, müsste folgerichtig Honecker und mit ihm sein Gefolge mit der Mauer verschwinden.“
Wir hatten übermütig gelacht und waren weiter geschlendert.
„Das werden wir wohl nicht mehr erleben“, hatte ich noch gesagt, „vielleicht unsere Enkel oder Urenkel. Guck mal, der beobachtet uns schon.“
Ich warf dem Wachmann auf dem Turm, der inmitten des Niemandlandes warnend emporragte, eine Kusshand zu und hakte Uschi unter.
„Schnell weg, sonst denken die noch, wir wollen türmen.“

Und nun war Siggi traurig.
„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte er. „Eine Welt wird einstürzen. Nicht nur die Mauer. Unsere Welt.“
„Unsere Welt? Deine vielleicht“, sagte ich verunsichert und betrachtete weiter das unvorstellbare Treiben am Brandenburger Tor. Die Menschen kletterten wie Affen die Mauer empor, halfen sich gegenseitig, jubelten, wenn sie es geschafft hatten, breiteten die Arme aus, als wollten sie wie ein Vogel davon fliegen. Grenzen überqueren. In der Freiheit jubilieren.
„Guck, mal Siggi“, sagte ich, „die schmeißen ihr Geld weg.“
„Alles Idioten“, schimpfte Siggi, „die werden schon sehen, was sie angerichtet haben.“
„Du meinst, das böse Erwachen kommt noch?“
„Klar.“ Siggi wurde immer wütender und auch trauriger. „Nach jeder Euphorie folgt die Depression. Sollten die die Einheit jetzt erzwingen, können wir alle einpacken. Der kalte Krieg ist nicht am 9. November 1989 zu Ende.“

Siggi war mit der Partei verheiratet. Aber er hatte nie Privilegien genossen. Im Gegenteil. Die Parteileitung hatte ihm immer nur Pflichten auferlegt. Pflichten, die er pflichtbewusst, freudig, treu und zuverlässig erfüllte. Er war ein echter Staatsdiener. Die Partei war das Volk. Und Siggi war ein Teil des Volkes. Und die Partei hatte immer recht. Und Siggis Frau nicht. Sie war nicht einfach so verreist. Sie hatte sich von ihm getrennt, wie er mir in der Nacht, so zwischen unseren Liebesspielen, gestanden hatte, weil sie sich von ihm vernachlässigt fühlte, nicht verstehen konnte oder wollte, dass er außer seinen ehelichen Verpflichtungen doch auch noch den gesellschaftlichen nachkommen musste. Und sie wollte immer die Nummer eins sein. Jedenfalls sah Siggi das so.

Mir gefiel das alles nicht. Besonders nicht, dass Siggi jetzt frei war, frei für mich, wie er sich ausdrückte. Und er hatte mich meinem Grundsatz, nichts mit verheirateten Männer anfangen zu wollen, über den Haufen schmeißen lassen. Na, es war ja nicht das erste Mal, dass ich meinen naiven Prinzipien untreu geworden bin. Doch diese Freiheit machte mir Angst. Besonders jetzt, da ich ihn so aufgelöst und unglücklich vor dem Fernseher sitzen sah. Vielleicht liebte ich ihn doch nicht so, wie ich sollte und wollte? Vielleicht hatte ich mir die Gefühle für ihn nur eingebildet? Waren sie ein Kind meiner blühenden Fantasie. Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit?
Denn wie ich Siggi jetzt so anschaute, empfand ich gar nichts mehr für ihn. Jedenfalls nichts, was mit Liebe zu tun hatte. Kein einziges Gefühl dieser Art regte sich in mir. Alles weg. Und seine Partei interessierte mich erst recht nicht. Und dass er jetzt so litt, verstand ich nicht.
Abrupt sprang ich auf.

Was sich hier auf dem Bildschirm abspielte, konnte nicht wahr sein. Niemals! Es musste ein Traum sein. Ein Märchen. Eine Sinnestäuschung. Auch wenn Siggi sagte, es sei real. Vielleicht träumte ich ja alles nur, weil ich besoffen war. Das Treiben auf der Straße. Das Treiben im Fernseher. Siggis Trauer. Meine Nichtgefühle.
Die unzähligen Menschen, die lachten, tanzten, sangen, eine Mauer erstürmten. Die Mauer zum Westen. Und Reporter überall.
Jeder versuchte hysterisch, wie alle Menschen, die sich da so übermütig, so laut und so glücklich tummelten, den anderen zu überschreien, die Musik zu übertönen.
- So ein Tag, so wunderschön wie heute... -

„Die Grenzen sind offen. Die Mauer kommt weg“, sagte Siggi lakonisch.
Es war einfach unbegreiflich. Wenn es kein Traum war, wollte ich mich selbst überzeugen, dass es wahr war. Ich wollte mit all den Menschen, die da mitten in der Nacht tanzten, lachten, sangen, fröhlich sein. Wollte, wenn es doch wahr wäre, was da im Fernsehen vor sich ging, zum zweiten Mal in meinem Leben, das erste Mal war ja der 4. November, die Demo der Hunderttausend, ein Teil der Masse sein, ein Teil eines unentwirrbaren Ganzen. Ich wollte wieder dazugehören. Noch einmal dieses unwahrscheinliche Glücksgefühl erleben, erfühlen, erriechen.
Mit all meinen Sinnen wollte ich dieses Gefühl der Stärke und doch auch der unterschwelligen Angst auskosten. Denn jeden Augenblick könnte die Friedfertigkeit der unzähligen Menschen, die da die Mauer erstürmten, in Chaos ausarten. Eine Bombe könnte platzen. Ein Flugzeug explodieren. Feuer vom Himmel regnen. Die Russen könnten mit ihren Panzern anrollen. Wie damals 1953. Oder ich könnte auch nur ohnmächtig werden. Inmitten dieser unübersehbaren Masse, dieses Stroms, der jeden Augenblick zu einer reißenden Sturzflut werden könnte. Ja, in so einer Nacht durfte ich nichts verpassen.

„Komm, zieh dich an.“ Ich nahm schnell Siggis Hand. „Ab zum Brandenburger Tor.“
„Nein.“
„Mach schon. Bitte.“
„Ich gehe nicht mit einer Verräterin.“

Verräterin. Ich? Nie und nimmer. Ich empfand mich als treue Staatsdienerin. Die DDR war mein Staat, meine Heimat, mein Leben. Ich war ein Kind dieses Staates. Und ich war ein glückliches Kind. Doch in der Partei war ich nicht. Ich war ein freiheitsliebender Mensch. Und nun nannte mich Siggi, mein Liebhaber, den seine Frau wegen seiner Partei verlassen hatte, eine Verräterin. Und ich fühlte: Er wurde von unterschwelligen Visionen heimgesucht. Ahnungen. Bildern, über die zu sprechen, ihm jetzt unmöglich war.
„Nein“, sagte er bestimmt, „es geht nicht. Die würden uns auch totdrücken. Und wie es aussieht, kommt doch da kein Auto durch. Die Bahnen sind bestimmt überfüllt. Wenn die überhaupt fahren. Und zum Laufen ist es zu weit.“
Das stimmte schon. Und meine Lieblingsstraße Unter den Linden war verstopft. Und der Pariser Platz auch. Hier wäre tatsächlich kein Durchkommen. Doch ich schrie Siggi an:
„Alles Ausreden!“ Ich war wütend. Enttäuscht. Unglücklich. „Feigling. Verdammter!“
Siggi zog sich schnell an.
„Wenn du das so siehst“, sagte er beleidigt, „kann ich ja gehen.“ Er hatte die Hand schon auf der Klinke. „Und ich dachte wirklich, dass du die Frau fürs Leben bist.“

Mein Bernstein fuhr in sein verlassenes Haus. Nach Wendenschloss.
Ich guckte weiter in die Röhre. Wurde neidisch auf die Leute, die da so verrückt abfeierten, während ich nun so allein war, mich nicht getraute, auf die Straßen zu gehen, unter das lebendige Getümmel zu mischen.
Noch lange drang das Getöse von der Straße und aus dem Fernseher in mein Wohnschlafzimmer, das jetzt, ohne Bernstein, all seinen Glanz verloren zu haben schien.
Unglücklich wickelte ich mich in die rote Plüschdecke und schlief irgendwann ein.
Ich träumte von unserer Kaufhalle nahe der Mauer. Später wurde das die Kaiserhalle.
Alle Regale waren prall gefüllt mit frischem Obst und Gemüse. Es gab die herrlichsten Dinge, Bananen und Apfelsinen und Früchte wie aus Tausend und einer Nacht, und überall prangten duftende Blumen in allen Farben. Und alle Menschen lächelten sich stumm an, umarmten und küssten sich. Ein wunderschöner Traum.

Noch ganz benommen von diesem Wunschtraum, sprang ich auf, lief ins Bad, wusch und kämmte mich flüchtig, zog mein rotes Kleid an, rannte zur Kaufhalle. Doch der Traum war ein Traum. Alles war wie immer. In der Kaufhalle, meine ich. Kein frisches Obst. Keine Blumen. Keine sich umarmenden, küssende Menschen. Nur aufgeregte Menschen überall. Auch ich war aufgeregt. Lief schnell die paar Meter zum Grenzübergang Heinrich - Heine - Straße, fragte den Grenzsoldaten, der da übernächtigt und zitternd wachte:
„Sind die Grenzen morgen auch noch geöffnet? Kann ich morgen rüber? Heute muss ich zur Arbeit.“
Was interessierte das den jungen Grenzsoldaten. Er hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten, sie zur Ruhe zu ermahnen, ihre Ausweise zu zeigen, ehe er sie passieren ließ zur Zollkontrolle. Mit unsicherer Stimme gab er Antwort auf meine überstürzten dummen Fragen:
„Ich weiß nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein, kann sein, dass morgen alles wieder anders ist. Ich weiß gar nichts.“
Natürlich wusste er nichts. Woher auch. Niemand wusste etwas. Es schien, als würden die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne dass Jemand etwas tat. Als würde all das, was jetzt geschah, von einer höheren, unsichtbaren Macht gelenkt.
Ich ging, auch unsicher. Musste ja ins Studio. Meinen nächsten Satz loswerden in Der letzte Rächer.

Wehmütig warf ich noch einen Blick auf die unübersichtlich lange Schlange vor dem Grenzübergang, die schnell länger wurde, wuchs und wuchs.
Woher kamen nur diese vielen Menschen? Mussten die nicht arbeiten? Die hatten sich alle hier versammelt, weil sie endlich nach drüben wollten, in den Goldenen Westen, nach Westberlin. Ohne Visa. Nur mit dem Personalausweis.
„Hundert Mark soll’s geben“, sagte ein Mann zu seiner Frau, die schon ihren Ausweis in die Höhe hielt, „unser erstes Westgeld.“
„Und was machen wir damit?“
„Weeß ick noch nich.“
Der Mann lachte schallend. Die Umstehenden fielen ein.
„Schokolade soll’s geben, einfach so, ohne Geld“, freute sich ein kleines Mädchen.
„Und Kaffee“, sagte die Mutter.

Alle Menschen waren aufgewühlt, Aufgelöst. Sogar die Luft schien erfüllt von einer unglaublichen Euphorie. Etwas noch nie Dagewesenem. Etwas, von dem man ein Leben lang geglaubt hatte, es könnte geschehen, müsste geschehen, doch man selbst würde es wohl niemals erleben. Etwas, dass immer ein Phantom, eine Fata Morgana, ein wunderschöner Traum bleiben würde. Etwas, das nur in der Fantasie möglich war.
Und nun war der Traum kein Traum mehr. Und selbst der graue Novemberhimmel erstrahlte im schönsten Himmelblau.

Und im schönsten Himmelblau strahlten auch die Augen meiner Kollegen.
„Es hat doch was gebracht, dass wir am 4. demonstriert haben“, war Renate überzeugt.
„Und ich bin stolz darauf, an so einem Historischen Tag, wie die Westmedien ihn nennen, mitgemischt zu haben“, sagte ich.
Alle lachten, und Claudia, die nun verheiratet war, zum zweiten Mal, sagte:
„Ich habe noch nie so viele Menschen freiwillig zusammenkommen sehen. Und dann diese Plakate. Diese Sprüche.“
„Vor ein zwei Monaten wäre man dafür fast gehenkt worden.“ Ich schaute Uschi an und fügte zögernd hinzu: „Bildlich gesehen, meine ich.“
„Und jetzt streuen sich die Kommunisten Asche aufs Haupt. Keiner glaubt ihnen“, sagte sie.
Der Regisseur stopfte seine teure Pfeife. Zog gemächlich daran. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich. Erfüllte duftend den Raum.
„Die Spira machte auf dem Podium eine tolle Figur“, sagte er zufrieden. „Wie sie so dem Publikum euphorisch kundtat, wie glücklich sie sei, das ostdeutsche Volk so vereint zu sehen, so siegesgewiss auf eine neue Ära hoffend. ‘Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben’, tönte sie von ihrer Höhe. Und die Massen jubelten.“
„Ja“, jubelte auch ich, „es war Wahnsinn. Es ist Wahnsinn. Und auch Stephan Heym ist Wahnsinn.“
„Stimmt. Der ist auch so alt wie die Spira. Da können wir Jungen uns wirklich eine Scheibe abschneiden. Was die noch für einen Elan haben.“ Claudia nickte anerkennend mit dem Kopf.
„Hat euch die Spira auch den Trab des Schaukelpferdes geschenkt?“, fragte ich in die Runde.
Alle verneinten.
„Mir aber“, sagte ich stolz. „Nachdem ich ihr einmal einen kleinen Strauß Blumen geschenkt hatte, einfach so, weil ich sie so gut finde.“
„Und was steht in dem Buch“, fragte mein Spielpartner neugierig.
„Ihr Leben“, triumphierte ich übermütig. „Und das Buch halte ich in Ehren.“
„Du kannst es mir ja mal borgen“, sagte Uschi.
„Klaro“, war ich einverstanden. „Und auch wir wollen nicht zu spät kommen“, nahm ich den Faden wieder auf. „Gorbatschow hatte recht. Er hat alles kommen sehen. Die Regierung hätte den Sputnik nicht verbieten sollen. Mit Verboten weckt man schlafende Hunde.“
„Kleine Philosophin“, neckte der Regisseur, während blaue Rauchschwaden unseren Geist umnebelten.
„Immerhin bewies er Mut. Schabowski, meine ich“, sagte ich und dachte an Siggi, der ein Feigling war, und trank meine Tasse mit dem schwarzen Kaffee leer.
„Die da oben wissen einfach nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, wie sie alles unter Kontrolle kriegen sollen, überall herrscht doch das reinste Chaos.“
Claudia lächelte unsicher.
„Ich glaube“, sinnierte Uschi, „das ist alles nur ein Versehen. Vielleicht sollte der Reporter sagen: ‘Bald werden die Grenzen geöffnet, und einige dürfen rüber’, und er hat gesagt: ‘Die Grenzen sind geöffnet, und alle dürfen rüber’. Deswegen der Andrang.“
Das fanden wir echt witzig. Könnte ja tatsächlich so gewesen sein.
„Kann ja sein, dass es nur ein Missverständnis war“, stimmte ich zu. „Aber was ist, ist. Rückgängig können die nichts mehr machen. Trauen die sich gar nicht. Sonst würden noch mehr abhauen.“
„Die heimlich über die Grenze nach Ungarn abgehauen sind, werden sich vielleicht ärgern. Die hätten sich den ganzen Stress sparen können.“ Renate kicherte in sich hinein, ehe sie weiter sprach: „Der Römhild ihr Mann, ihr wisst schon, der von der Maz, ist vorige Woche erst verschwunden, und sie sollte auch über Ungarn nachkommen, wenn sie hier alles verkauft hätte.“
„Das schöne Haus“, bedauerte ich. „Nun kann sie ja legal rübergehen. Wenn sie noch will.“

Ein Teil unseres Teams wollte heute noch nach Westberlin. Sie wollten nicht warten. Dass mit den hundert Mark war auch keine Ente. Jeder konnte sie sich an einer Bank oder Sparkasse im Westen abholen. Was konnte man für so viel Geld alles kaufen.

„Ich kaufe mir was zum Anziehen“, sagte Renate, „da brauche ich nicht in den Intershop zu gehen. Mein Westgeld geht sowieso zur Neige.“
„Ich werde mir Schmuck kaufen“, verkündete Uschi, „und wieder auf die Pirsch gehen. Mir einen Westmann angeln.“
„Na, dann viel Spaß“, lachte Renate.
„Du kannst nur froh sein, dass du Verwandte im Westen hast, die dir ab und zu mal ‘ne Mark zustecken.“ Herausfordernd sah Uschi Renate an.
Doch Renate schwieg.
„Ich Schokolade. Schokolade und Obst“, sagte ich überzeugt.
Mir schmeckte die Westschokolade besonders gut. Endlich würde ich mich mal so richtig an ihr sattessen können. Vor Vorfreude lief mir schon das Wasser im Mund zusammen.
Jeder malte sich aus, was er wohl am besten mit den unverhofften hundert Westmark anstellen sollte, das heißt, wofür er sie ausgeben wollte oder könnte.

Uschi und ich wollten am 11.11. 1989 rüber gehen. Das schien uns ein angemessener Tag.

*

Es war ein wunderschöner Herbsttag. Der Himmel blau und wolkenlos. Fröhlich stellten wir uns an das Ende einer aufgewühlten Menschenmenge aus einem Labyrinth aus Lachen, Übermut, Hoffnung, Erwartung. Und, wie es mir schien, auch Misstrauen. Bestimmt, weil kaum jemand glauben konnte, dass die Realität Realität war. Hunderte Augenpaare blitzten freundlich umher. Gefangen in der immer länger werdende Menschenschlange am Übergang Heinrich-Heine-Straße.

Es ging nur langsam in Schüben voran. Sobald ein Schub abgefertigt war, rückte der nächste nach und die Menschen rannten ein kurzes Stück. Wie Soldaten in einer rasch marschierenden Kolonne.
Wie alle anderen hielten Uschi und ich unsere Personalausweise schon lange vor dem Passierhäuschen in die Höhe. Als wir endlich davor standen, schaute ein Zollbeamter flüchtig auf die Passbilder und drückte einen Stempel auf die hintere Seite der Ausweise.
Wir liefen noch ein Stück und waren im Westteil der Stadt. Sehen konnten wir nur rechts und links die Häuser, aus deren Fenstern uns die Leute zuwinkten und manche Bonbons in die Menge warfen.
Uschi und ich hielten uns an den Händen, eingeschlossen in einer aufgewühlten Menschenmenge.
„Pass auf, dass wir uns nicht verlieren“, mahnte Uschi immer wieder, während sie meine Hand fast zerquetschte.

Kurz vor dem Moritzplatz stockte die Reihe wieder. Ruckelte und zuckelte und lichtete sich etwas. Die Menschen strömten in verschiedene Richtungen auseinander. Rund um das Rondell am Moritzplatz wurde der Trubel immer heftiger. Die Menschen hielten sich an den Händen und tanzten zu den rockigen Klängen aus den aufgestellten Lautsprechern. Der Musik der Achtziger. Don‘t Worry, Be Happy von Bobby McFerrin. The First Time von Robin Beck und Something's Gotten Hold Of My Heart von Marc Almond & Gene Pitney und wie sie alle hießen. Auch an Looking For Freedom von David Hasselhoff konnte ich mich erinnern.
Na, jedenfalls war echt die Hölle los. Und Uschi und ich staunten nur so und tanzten und lachten und sangen mit all den anderen Verrückten.

Plötzlich fühlte ich, wie mich aus dem Gewühl ein Augenpaar anstarrte. Fast körperlich spürte ich es auf meinem Gesicht, dann runtergleiten über meinen Körper zu meinen Füßen.
‚Ein Glück‘, dachte ich in diesem Moment, ‚dass ich meine besten Schuhe angezogen habe.‘
Die roten Pumps. Passend zu meinem roten Kleid. Immer noch mein bestes. Das ich nur zu besonderen Gelegenheiten trug. Ebenso wie meine schwarze Lacktasche, die jetzt wie verloren an meiner linken Hand baumelte. Und ich kam mir in diesem Augenblick tatsächlich wieder so verloren vor wie damals.
Die Augen schälten sich aus dem Gewühl, kamen näher. Immer näher. Die Glut in den dunklen Augen sprühte Funken. Blitzten in meine. Hielten sie fest. Ließen sie nicht mehr los. Zu den Augen gehörte natürlich ein Mann. Und was für einer. Mittelgroß. Sportliche Figur. Glattes, dunkles Haar bis zur Schulter. Anzug. Grau. Offenes graues Hemd. Kein Schlips.
„Uschi…“, stotterte ich. „Uschi…“
„Was ist denn los?“, fragte Uschi besorgt. „Du siehst ja ganz blass aus. Du zitterst ja.“
„Da, da…“ Ich zeigte in die Richtung, in der der Mann wie festgewachsen stand und mich anstarrte. „Der Mann…“
„Was ist mit dem?“
„Das, das ist er.“
„Was ist der. Soll ich den Sani rufen? Bestimmt bekommt dir die Aufregung nicht.“
„Nein, nein. Alles in Ordnung.“
„Und warum dann dieser Aufstand?“
Allmählich erholte ich mich von meinem Schock. Und während ich noch immer den Mann anstarrte und er mich, sagte ich zu Uschi:
„Uschilein, schönste aller Frauen, hör zu. Merk dir diesen Augenblick. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“
„Du bist mir vielleicht ne Nudel“, lachte Uschi los. „Zeichen und Wunder. Wahrhaftig. Mädel. Du bist und bleibst eine Traumtänzerin.“
„Es ist der Unbekannte“, sagte ich, „Apoll. Die Sünde einer Nacht. Johannas Erzeuger.“
„Nein!“ Uschi blieb das Lachen buchstäblich im Halse stecken. „Das spinnst du dir zurecht“, sagte sie und ließ meine Hand los. „Aber guck mal. „Der kommt zu uns.“

Mein Apoll hatte sich langsam durch die Menge gewühlt. Als er endlich vor mir stand, sagte er mit einer Stimme, die mir durch und durch ging:
„Siehst du aber süß aus. Kommst du mit an meinen Tisch? Da steht eine Flasche Wein. Die wartet schon auf dich.“
Ich brachte natürlich keinen Ton heraus. Sah meine Sünde einer Nacht nur stumm an.
Zum Glück rettete Uschi die Situation.
„Alles klar“, sagte sie flippig. „Ich kenne die Situation. Ich bin die Uschi. Die Freundin. Und du bist die Sünde einer Nacht. Und der Vater von Johanna. Das süße Ding ist jetzt zwei Jahre alt. Und zurzeit bei der Oma. Alles klar?“
Meinem Apoll hatte es jetzt auch die Sprache verschlagen. Kein Wunder aber auch, wenn Mann von jetzt auf gleich Vater wird. So ganz ohne Vorwarnung. Und wer weiß, vielleicht war er ja verheiratet? Und hatte schon Kinder. Ich wusste ja nichts von ihm. Kannte nicht einmal seinen Namen. Und er nicht den meinen.
Apoll starrte noch immer in meine Augen.
„Alles klar“, sagte er dann. „Kein Problem. Wir können über alles reden.“
„Aber sicher“, hauchte ich.
„Wie oft war ich in dieser Bar.“ Apoll fasste zärtlich nach meiner Hand, die ich ihm willig überließ. „Aber du warst nie da. Und ich musste doch immer 24Uhr die Grenze passiert haben.“

*

Und nun saß ich staunend vor dem Spiegel im Bad und machte mich schön für Apoll, der jeden Moment kommen musste.
Das Schicksal geht oft seltsame Wege. Irrwege. Doch irgendwie und irgendwann führen sie alle zum Ziel.

***

Diese Geschichte ist ein kleiner Beitrag zu Zwanzig Jahre Mauerfall.
Ich hoffe, dass sie euch gefallen hat.
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 14:45:13