... für Leser und Schreiber.  

Glück gehabt (Märchen für Silvester)

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© Dieter Halle   
   
´Ach´, dachte der grüne Halm mit seinen vier kleinen Blättern. Das ist also der Winter. Ich habe ihn kennengelernt. Sein Schnee sieht zauberhaft aus, aber seine Kälte ist brutal. Und jetzt schneit es schon wieder und es wird dunkel.
Ich war unvernünftig, das gebe ich zu. Fünf Regenwürmer, ein Löwenzahn und drei Tulpenzwiebeln hatten mich gewarnt. „Schau nicht nach dem, was da oben ist. Die Welt hat sich verwandelt, sie ist eine Eiswelt geworden. Wer neugierig ist wird getötet!“ Aber ich konnte nicht glauben, dass es diese andere Welt geben sollte. Ich musste unbedingt herausfinden, ob die Gerüchte auch stimmen.
„Es gibt ihn, den Winter, aber er sieht langweilig aus!“, hatte mir Fred Maulwurf neulich erzählt. „Da oben liegt nur blödes Weißes herum und das ist ganz kalt. Meine Frau hat gesagt, man sollte sich nicht für alles interessieren! Das strengt nur an!“
„Winter?“, hatte ich verzückt geantwortet. „Ich habe noch nie einen Winter gesehen. Gefühlt schon, aber noch nie betrachtet!“
Der Maulwurf hatte nichts mehr erwidert, nur gegähnt und sich dann unter mir, eine Etage tiefer, einfach schlafen gelegt. Seine Frau schnarchte bereits.
Schlimm war vielleicht auch, dass ich schließlich alle meine Geschwister und Freunde dazu überredet habe, mal endlich die Wahrheit an den Tag zu bringen, mal endlich durch alles Geheimnisvolle durchzublicken, denn man kann doch nicht behaupten, dass es etwas gibt, wenn man gar keine Beweise dafür hat. So beschlossen wir, gemeinschaftlich durch die Erde zu brechen, um nachzugucken.Für einen Moment war es ja auch ganz warm gewesen, weil die Sonne hervorgekommen war und da haben wir alle zusammen ganz laut: „Hau Ruck! Hau Ruck!“ gerufen - hat natürlich keiner gehört außer uns - und dann hatten wir den kleinen angetauten Schneeberg über uns gemeinschaftlich hochgehoben und wir standen alle als kleines, kräftiges Büschel plötzlich im Freien. Wir schauten uns begeistert um, denn alles war wahr. Aber es war nicht hässlich, es war einfach toll! Wow, welch eine schöne weiße Wunderwelt, und wie sie funkelte und glitzerte. Doch dann wurde uns kalt. Mann, haben wir plötzlich gebibbert. Es war so lausekalt, dass wir dachten, wir müssen augenblicklich erfrieren. „Schnell zurück!“, rief mein bester Freund erschrocken. Aber das ging nicht mehr und es schneite schon wieder.
Da kam ein großer Hund des Weges.
„Kannst du uns nicht mit deinen Pfoten wieder zubuddeln?“, fragte ich den.
„Mal sehen! Ihr habt Glück, heut ist mein guter Tag“, erklärte der und fing sofort an zu scharren. Schwupp, hatte er auch noch unsere Wurzeln freigelegt.
Huuuh, nun war es noch kälter als zuvor. „Aber ich hatte doch einbuddeln nicht ausbuddeln gesagt!“, jammerte ich.
„Ach, so!“, keuchte der Hund. „Ich bin schon ziemlich alt und daher schwerhörig und jetzt bin ich leider ... leider auch noch erschöpft. Tja, da habt ihr wohl Pech gehabt! Ihr müsst sterben. Weshalb ward ihr so vorwitzig!“
Und dann lief er einfach schnüffelnd weiter.
Auweh, war das uns jetzt an den Wurzeln kalt und es wurde immer kälter und kälter. In meiner Not habe ich die kleine Knospe oben an meinem Halm aufgeklappt. Meine Freunde taten es mir nach. Vielleicht konnte man ja mit diesen vielen herzförmigen Blättern davonfiegen, vor dieser Kälte. Aber wir ahnten schon, dass wir trotzdem alle elendig erfrieren würden.
Da hörten wir plötzlich ein helles Stimmchen: „Mutti, Vierkleeblätter! Wir haben Glück!“
„Das ist ja verrückt!“, rief die Mutter und blieb stehen. „Wer hat das ausgegraben? Und das mitten im Winter! Die Natur spielt eben manchmal Streiche! Na, wenn das kein gutes Zeichen für uns ist.“
Und so kam es, dass man uns in eine Tüte packte und mit nach Hause nahm. Jetzt stehen wir hier im Warmen auf dem Fensterbrett und schauen dem Schnee zu, wie er draußen fällt. Ein kleiner Schornsteinfeger ist in unserem schön mit weicher Erde gefüllten Töpfchen gepiekt worden, bunte Papierkringel schlängeln sich durch unsere Halme hindurch. Wir haben eine gute Aussicht über das Marzipanschwein, welches direkt vor dem kleinen Töpfchen steht, wenn das neue Jahr beginnt. Ein schöner Duft zieht gerade durch dieses Zimmer und ich denke zurück, was wir im alten Jahr riskiert haben, als ich gemeinschaftlich mit meinen treuen Freunden in eine neue Welt gestoßen bin. Es hätte schief gehen können, aber ich bereue es nicht. Warum sollten wir immer den Kopf in den Sand stecken? Fragen wir uns doch ruhig, was es außerhalb unserer Welt vielleicht noch geben könnte und forschen wir nach. Selbst wenn es gefährlich für uns werden könnte, so ist es tausend mal besser als ein ödes Leben in Unwissenheit.
 

http://www.webstories.cc 02.05.2024 - 05:29:51