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Stiller Moment - Silvestererinnerung

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©  doska   
   
Ich stehe warm eingemummelt im Freien. Mit einer Hand ziehe ich den Kragen hinauf, zupfte mir den dicken Schal etwas höher, während ich nach oben blicke. Über mir ist die Nacht schwarz und schneeverhangen. Nur ab und an, wenn die Wolken vorüber eilen, ist der Mond zu sehen. Von hier oben wirken die vielen kleinen Häuser und Baumwipfel wie schwarze Scherenschnitte. Scharfer Wind peitscht plötzlich feuchte Kälte zu mir herüber, beißt mir eisig ins Gesicht. Meine Nase scheint irgendwie abgestorben zu sein.
Ich nippe zögernd vom Wein und denke nach. Seltsam, meine Gedanken sind plötzlich bei Hubert. Ich habe ihn nur selten gesehen, aber er hat sich tief in mir eingeprägt, Hubert, mein Onkel. Wenn er mal da war, schimpfte meine Mutter sofort mit ihm, bis er mit großen, traurigen Augen bald wieder verschwand. Was mochte wohl in vergangenen Zeiten mit den beiden Geschwistern passiert sein, dass Irmgard ihren Bruder derart hasste?
Es war an einem schönen Silvesterabend, als die Hausangestellten der hohen Herrschaften, bei denen Irmgards Mutter – meine Großmutter - als Hausmädchen arbeitete, Bleigießen machten. Alles lachte und war in Hochstimmung, nur meine Großmutter saß geknickt da. Ihr Herz klopfte bis zum Halse, nachdem Armin sie in barschem Ton ermuntert hatte, endlich zu zeigen, welche Figur sie denn aus Blei gegossen hätte. Sie versteckte das kleine Gebilde zitternd in ihren Händen, denn man war hier nicht nur sehr abergläubisch, Armin, dem Chauffeur, wurden sogar hellseherische Fähigkeiten nachgesagt.
Die kleine Gesellschaft schwieg und starrte meine Großmutter kritisch an. Jedenfalls hatte meine gerade erst neuzehn Jahre alt gewordene Großmutter das Gefühl, dass man sie regelrecht anglotzen würden.
´Nur nicht rot werden!´, dachte sie erschrocken, aber da war es schon geschehen. Ihr Gesicht glühte, während sie viel zu langsam die Hände öffnete und das kleine, silbern schimmernde Gebilde zum Vorschein brachte. Es sah merkwürdig aus, etwa wie eine Frau, die schwanger war.
„Haha“, lachte Armin erbarmungslos in die Stille hinein und blickte dabei auf den leicht vorgewölbten Bauch des jungen Mädchens. „Man könnte fast meinen, im nächsten Jahr erwartet unsere Wilma ein Kind!“
Das klang für meine blutjunge Großmutter fast wie ein Todesurteil. Sie versuchte sich in ihrem Stuhl nach hinten zu lehnen, um sich zu entspannen, denn ihr war mit einem Male schwarz vor Augen geworden.
´Bloß nicht vom Stuhl fallen!´, dachte sie. Fast gleichzeitig brachen die Angestellten in schallendes Gelächter aus, aber dieses Lachen klang gar nicht heiter. Es klang in Wilmas Ohren höhnisch und grausam. Meine Großmutter wusste, dass sie eine Todsünde begangen hatte. Sie war mit dem Sohn des Hausherrn, der so wunderschöne, traurige Augen hatte, einfach ´ins Bett gestiegen´, wie man das damals nannte und das sogar mehrmals. Und sie waren sehr glücklich dabei gewesen. Wilma bereute keine Sekunde, doch eine Heirat mit einem Hausmädel war nicht standesgemäß. Ja, es stimmte, meine Großmutter trug eine Leibesfrucht unter dem Herzen.
Zwei Stunden später, als Wilma meinte, dass schon alles vergessen wäre, öffnete sich die Tür des Angestelltenzimmers und der Hausherr und seine Angetraute schauten persönlich hinein. Alles erhob sich ehrfurchtsvoll von den Stühlen, aber sein Blick war alles andere als freundlich, als dieser meine Großmutter traf. „Komm mal mit!“, sagte er mit verkniffener Miene und die Hausherrin nickte Wilma auffordernd zu.
Meine Großmutter schob sich mit zitternden Knien an den Tischen vorbei, ahnte sie doch, dass jemand gepetzt haben musste- wahrscheinlich Erika, das Küchenmädchen, das immer sehr geschwätzig war.
„Du kannst hier nicht mehr bleiben!“, tönte es wenig später von den schmalen Lippen der Hausherrin. „Wie soll ich das ...“, sie wies dabei pikiert auf Wilmas leicht gerundeten Bauch, „... später meinen Kindern erklären, denn du wirst ja immer dicker werden! Meine Töchter sollen unschuldig aufwachsen und nicht so verkommen werden wie du!“
In diesem Moment kämpfte Wilma heftig mit den Tränen. War sie denn wirklich verkommen, nur weil sie geliebt hatte?
„Obwohl du eine Schande für unser Haus bist, erhältst du trotzdem dein Geld!“, sagte nun die Hausherrin beschwichtigend. Sie drückte Wilma einen kleinen Beutel in die bebende Hand. "Und nun auf Nimmerwiedersehen!“
Meine Großmutter taumelte hinaus in die Kälte, hörte hinter sich die Stimmen der Angestellten. „Du meine Güte, diese Wilma! Wer hätte das von ihr gedacht! Dabei ist sie immer ein so fleißiges und freundliches Mädchen gewesen! Ich glaube, besonders die kleinen Kinder des Hauses haben sie geliebt. Wie schrecklich! Man bedenke den negativen Einfluss, den sie vor allem auf die Töchter hätte haben können!“
Meine Großmutter stapfte durch den Schnee, immer weiter und weiter, schaute ab und zu zum Himmel hinauf - er war Wolken verhangen. ´Mein armes Kind´, dachte sie. ´Noch liegt es sicher in meinem Bauch, aber was soll später aus ihm werden? Es wird unehelich geboren. Jeder wird es deswegen hänseln. Ich habe gesündigt, habe gedankenlos ein Kind in die Welt gesetzt, das zwar ich lieben werde, aber sonst niemand. Meine Liebe wird nicht ausreichen können, um es vor den Angriffen der Welt zu bewahren. Aber wenn ich mich töte, wird es gar nicht erst auf diese Welt kommen und ich kann ihm viel Leid ersparen.´
Schließlich stand sie vor den Schienen. Schnee fiel und sie wusste, dass der Zug bald hier vorbei fahren würde, aber der Lokführer hatte sie gesehen und bremste. Er kletterte schließlich aus der Kabine zu ihr hinab und packte sie beim Arm, als sie weglaufen wollte.
„Mädchen, was wolltest du tun?“, keuchte er entsetzt.
Sie wies nur stumm auf ihren Bauch, denn um etwas zu sagen, dazu war sie nicht mehr in der Lage.
„Aber das ist doch kein Grund!“, erwiderte er und schob ihr das verschwitzte Haar aus dem verschneiten Gesicht.
„Doch ... ich ... bin eine Schande!“, krächzte sie und da kamen endlich die Tränen. Er drückte sie wortlos an sich, umarmte sie mit seinen langen kräftigen Armen, hüllte sie völlig ein und so schluchzte sie plötzlich los, weinte sie sich laut und heftig an seiner Brust aus.
Es kam so, dass dieser Lokführer meine Großmutter später trotz Bastard, was er diesem Jungen später nicht oft genug sagen konnte, heiratete.
Onkel Hubert wurde später viel vom Ziehvater geschlagen, denn er kam ja bestimmt nach diesem hochherrschaftlichen Arschloch, weil er so viel Unsinn machte. Seine Schwester, die wenig später geboren wurde, war ein mustergültiges Beispiel an Gehorsamkeit, doch Hubert blieb ein schlimmer Junge. Schließlich wurden die Schläge so unerträglich und grausam, dass der kleine Hubert sich dazu durchrang, seine über alles geliebte Mutter zu verlassen, um zu den Großeltern zu flüchten.
Mit Gewalt wollte der gestrenge Ziehvater später das Kind zurück holen und es so schrecklich verprügeln, dass es ein für alle mal genug haben würde, einfach abzuhauen, aber die Großeltern stellten sich im letzten Moment schützend vor den zitternden Jungen.
Als der Ziehvater gestorben war, schimpfte meine Mutter, stellvertretend für ihn, stets auf jeder Familienfeier über diesen verkommenen Onkel Hubert. Sie kannte es eben nicht anders, war so aufgewachsen und sie selbst war ja immer brav und Hubert natürlich ein Taugenichts gewesen, und das schon von Geburt an. Er käme eben ganz nach diesem "reichen Pack"! Da wäre es kein Wunder, dass er jetzt auch noch trinke.

Das letzte Mal als ich meinen Onkel sah, war er käseweiß im Gesicht und roch stark nach Alkohol. Er schaute mich nur stumm mit seinen großen traurigen Augen an. Wie ich gehört habe, starb er sehr früh.

Heute stehe ich hier und schiebe den Schnee mit einer bedächtigen Handbewegung vom Geländer des Balkons und schaue, genau wie damals meine Großmutter, zum Himmel hinauf. Es hat sich dort oben nicht viel verändert. Er ist auch heute schwarz und verhangen. In der Nähe höre ich schon die ersten Knaller und hinter den drei Tannen geht sogar ein Leuchtkörper hoch. Ich schaue mich um. Durch die geöffnete Bakontür flutet Licht zu mir herüber. Ich höre lautes Lachen aus dem Zimmer. Wortfetzen verraten mir, dass gerade Blei gegossen wird.
„Und was ist es bei dir geworden?“, fragen die Gäste plötzlich jemanden neugierig.
Ich will nicht mehr daran Anteil nehmen, wende mich ab, hebe mein Glas und proste einem der Sterne zu, den gerade die Wolken frei gegeben haben. Vieles ist passiert seit damals. So einiges hat sich geändert, denn Juliane wird bestimmt mit großem Stolz erzählen, dass sie im nächsten Jahr ein Baby ganz alleine großziehen wird. Doch wird er kein Trinker werden? Leise schicke ich diese Frage zu dem Mond und den Sternen hinauf.
„Menschheit“, meine ich den Himmel zu hören, „ Ihr habt so viele Probleme, doch ihr könnt sie zum Guten verändern. Jedes neue Jahr ist auch eine neue Chance! Ihr habt es in der Hand!“
 

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