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Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit (Teil3)

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© Michael Brushwood   
   
Zwei Jahre waren seit seinem letzten stationären Aufenthalt vergangen. Aus Marios Sicht zwei weitere Jahre ohne nennenswerte Fortschritte. Drei weitere Male hatte er noch diesen typischen Krankenhausgeruch einatmen „dürfen” - doch immer wieder sollte ihn diese schiere Hoffnungslosigkeit, diese Antriebslosigkeit, diese innere Leere, einholen.
Er musste erneut den bitteren Weg in die Klinik antreten. Da ahnte er noch nicht, dass bald ein Fünkchen Hoffnung für ihn sichtbar werden würde.

Den Stein ins Rollen brachte der einmal in der Woche stattfindende Literaturabend.
Das Team der Klinik hatte den Patienten die Möglichkeit eingeräumt, Auszüge aus ihren Lieblingsbüchern vorzustellen.
Doch Sybille - eine etwas in die Breite geratene ältere Frau mit leicht ergrautem Haar - präsentierte Werke aus eigener Feder und versetzte die meisten ihre Leidensgenossen weidlich ins Staunen. Drei Gedichte, aber auch eine Kurzgeschichte flossen zwar ein wenig stockend, dennoch aber hochemotional über die breiten, von auffallend tiefen Rissen durchzogenen Lippen dieser tapferen Frau, die viel Schand- und Schmach durchleben musste. Aus dem Mute purer Verzweiflung heraus – ihr einstiger Weggefährte hatte sie nach Strich und Faden belogen und sie zudem noch mit unglaublich-schmerzhaften Schlägen traktiert - hatte sie sich durchgerungen, ihre schier unglaublichen Schicksalsschläge in Form von Worten, die sehr zu Herzen gingen, der Öffentlichkeit preiszugeben.
Betretenes Schweigen herrschte in dem kleinen schmalen Raum, der mit stilvollen Menschen- und Landschaftsgebilden – alles Werke früherer Patienten - beruhigend auf die Patienten einwirkte.
Als die mutige Frau, der es sichtlich schwerfiel, die in ihr aufkeimende Wehmut zu unterdrücken, sich für die ihr entgegengebrachte Aufmerksamkeit bedankte, brandete herzlicher Beifall auf.
Die Seelenkranken sparten nicht mit rührenden Worten, mit Worten der Herzlichkeit, aber auch mit Worten der Bewunderung, die tief unter die Haut gingen.
Mario war sichtlich gerührt, legte beide Hände auf den Knien ab und faltete diese zusammen.
Er betete für die couragierte Frau und war zu Tränen gerührt, wie andere Zuhörer auch.
Gäbe es einen Grund, für diese Frau, die ein Maß an kaum vorstellbarer Gewalt durchleben musste - deren Wunden auch heute noch wie giftige Stacheln in ihrer Seele brennen - nicht zu beten?

Mario hob die Brauen, schnitt tiefe Denkfalten auf die Stirn, die sich bis an den Haaransatz schoben.
„Schreiben, das wäre doch mal was für mich!"
Mario schwörte sich ein, es wenigstens mal zu versuchen.
Gedacht - getan!


Noch als er die letzten Tage in dieser Klinik schmorte, suchte er nach Wegen, die es möglich machen könnten, seinen inneren Schweinehund zu überwinden.
Wieder hatte dieses Grübeln eingesetzt, doch diesmal nicht begleitet von diesen abscheulichen Wahnvorstellungen, denen er bis dato hilflos ausgeliefert war, die von einem Tag auf den anderen immer mehr Magensäure aufstiegen ließen, es war - gottlob - ein produktives Grübeln - oder besser gesagt, ein Nachdenken, welches den Weg in ein sinnerfülltes Leben weisen könnte.

Den Titel für sein erstes Gedicht hatte er schnell gefunden. Er nannte es schlicht und einfach November

Der Gepeinigte versuchte, seine gedrückte Stimmung mit dem melancholischem Grau des Himmel, den zornig aufwallenden Nebelschwaden, die in diesen erbärmlich kurzen Tagen regierten, in Einklang zu bringen
Doch anfangs machte Großmann die gähnende Leere in seinem Kopf zu schaffen. Massive Wutfalten durchschnitten Marios gerötete Stirn. Aber der endlich wieder einen Tick reifer gewordene junge Mann verstand es dennoch, sich unter Kontrolle zu halten – so schwer es ihm auch fiel. So musste sein Laptop doch nicht in den „Genuss” kommen, einem unvermittelt auftretenden Wutanfall herhalten zu müssen. Mario's Fleiß, das unerbittliche Ringen gegen seinen inneren Schweinehund , sollte am Ende doch noch von Erfolg gekrönt sein, obwohl es ihm erst nach satten vier Wochen vergönnt war, sein Erstlingswerk in der fertigen Version niederzuschreiben.
Natürlich ließ sein Schreibstil noch einige Wünsche offen. Dennoch hatte er Großes vollbracht. Für Menschen, die unter schwersten Depressionen und unsäglichen Ängsten entsetzlich leiden müssen, eine Leistung, vor der jeder Mensch Respekt zollen sollte – auch wenn es sich hier nur um ein Gedicht handelte, welches sich scheinbar einfach aus dem Ärmel schütteln ließe.
Schließlich waren auch jene Bestseller-Autoren, die mit ihren herausragenden Werken derzeit im Rampenlicht stehen, nicht über Nacht, und erst recht nicht wie Sternschnuppen vom Himmel gefallen. Kometenhafte Aufstiege, die gab es zwar auch – jedoch bildeten diese eher eine Ausnahme.


November

Nebelschwaden wabern durch das Tal,
wo einst die Sonne ich noch sah,
die uns Herzenswärme spendete,
so wie es immer war.

Ein kalter Wind bläst uns ins Angesicht,
der uns erzittern lässt,
Nässe kriecht auf uns're Haut,
die uns noch gibt den Rest.
Es ist November.

Als die Wiesen saftig grün -
und die Sonne uns beschien,
erklommen wir den Kamm der Leidenschaft,
und tankten dabei sehr viel Kraft.

Jetzt bibbern wir im grauen Tal -
und merken, es ist so fatal,
wir möchten fliehen bald -
aus diesem öden Grau.
Noch regieret der November.

Flocken wirbeln durch die Lande -
und verdecken tristes Grau.
Die Sonne sucht sich ihre Wege,
der Himmel strahlt im tiefen Blau.
Es nahet der Dezember.

Durchschritten das Novembertal,
das uns erschaudern ließ,
vergessen diese Seelenqual,
die uns oft verdrieß.
Freudig grüßet der Dezember.

Mit seiner einstigen Liebe, war es nun leider nicht mehr möglich, die nur schwer zu ertragende Tristess dieses Monates gemeinsam zu durchschreiten.
Weshalb war Mario dennoch das Wagnis eingegangen, einen Blick in eine andere, eine bessere Welt zu wagen, eine Welt, die vermeintlich um Lichtjahre von seiner eigenen entfernt zu sein schien?
Beseelt von unbeschreiblicher Sehnsucht, die wohlig-strömende Wärme seines weichen Herzen in absehbarer Zeit, einer Frau zu schenken – möglichst einer Zartbesaiteten, die - wie Mario - auch nicht auf Rosen gebettet läge - hatte den Schwermütigen letztendlich dazu bewogen, diese selbstzerstörerische Schwarzmalerei zumindest einzugrenzen.
Verhaltensauffälligkeiten, die psychischen Störungen geschuldet sind, lassen sich leider nicht von heute auf morgen beseitigen.

Immerhin war es dem Leidtragenden gelungen – die sein Gemüt sichtlich aufhellende Wintersonne im Bunde mit der in betörendem Weiß glitzernden Pracht, die den Beginn der Vorweihnachtszeit einläutete - der in diesem Monat stetig wiederkehrenden melancholischen Bitterkeit, ein wenig die Schwere zu nehmen.
Es war zwar nur ein mageres Körnchen Hoffnung, was sich in Marios Kopf eingenistet hatte - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Möge dieses feine Körnchen Hoffnung geschwind wachsen und zu einem kräftigen Stamm mutieren, zu einem Stamm, der es vermag, auch den gnadenlosesten Stürmen des Lebens zu widerstehen.


(Fortsetzung Teil 4 folgt)
 

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