... für Leser und Schreiber.  

Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit (Teil4)

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© Michael Brushwood   
   
An einem grauen Nachmittag im November - Mario schleppte zwei voll bepackte Einkaufstüten durch die Shoppingmeile der City - stießen seine traurigen Augen rein zufällig auf ein kleines Plakat, welches an einer schon sehr in die Jahre gekommenen Litfaßsäule stumm dahin siegte.
Auf diesem prangte das in fetten schwarzen Lettern geschwungene Wort Schicksalsschläge - darunter der Hinweis Autorenlesung mit Anika Roßmann, am 20. November, 18.00 Uhr im Bürgersaal des Rathauses.
Der Absturz einer Geschäftsführerin zur Sozialhilfeempfängerin!
„Würde mich durchaus mal interessieren”, kam es Mario plötzlich in den Sinn.
Doch so einfach sich mal aus den eigenen vier Wänden wagen - für einen Eigenbrötler wie Mario, der zuletzt Menschen fürchtete wie Kaninchen die Schlangen - käme das schon einem Wunder gleich.

Großmann wusste sehr wohl, dass er sich nicht mehr in dieser Abstumpfung fördernden Ödnis seines Schneckenhaus verkriechen konnte, um nicht für immer und ewig in dieser schrecklich-stummen Tristess seiner "Platte" zu versauern. Diesem wollte er sich mit aller Macht entgegenstellen.
Kurz entschlossen gab Großmann seinem Herz einen Stoß und nahm dieses vermeintliche Risiko, den Weg, in die vor einem Jahr mit einem maßlos übertriebenen Brimborium neu eröffnete Bibliothek, zu wagen.
Das Herz des Aufopferungsvollen schlug so heftig, dass es sogar den in seinen Beinen perlenden Wackelpudding zum Kochen brachte, erst recht als er sich die eng gewundenen Stufen der Wendeltreppe hinaufschleppte, die den Weg zum Lesesaal wies.
Bereits aus der Ferne vernahm er schwer zu verstehendes leises Gemurmel.
Die Bibliothekarin lancierte das große Reservoire an Stühlen zu einem Halbkreis.
An einem langgezogenen ovalen Tisch sitzend, hatte es sich die Autorin, die einen knappen Kontrollblick in ihr Erstlingswerk warf, in ihrem flauschigen Sessel gemütlich gemacht.
Ein schüchternes „Guten Tag” quetschte Mario aus seinem zitternden Mund, als Anika ihr Gesicht um eine Handlänge anhob.
Dem weiblichen Duo hingegen sprudelte das korrekte "Guten Abend" wesentlich lauter aus ihren Mündern.
Der große Lesesaal dieser Bibliothek war geschmackvoll eingerichtet. Exotische Pflanzen wie Bergpalmen, Bogenhanf, Grünlilien, aber auch leuchtende Rosen, Tulpen, Gladiolen und andere Blumen thronten aus großen Runden Töpfen, die an den mit Halbkreisen abgerundeten sprossigen Fenstern einen passenden Platz gefunden hatten, sorgten für echtes Wohlfühlklima.
Erst wenige Minuten vor Beginn der Lesung tröpfelten die ersten Besucher in den Saal.
Doch mehr wie zehn Zuhörer sollten es am Ende doch nicht werden.
Eigentlich schade! Dieses sehr zu Herzen gehende Werk hätte wahrlich einen wesentlich größeren Zuspruch an Puplikum verdient.
Denn die Worte, die aus dem - in hellem Rosa - schillerndem Mund der gutaussehenden schwarzhaarigen Frau, deren adriablaue Augen leicht glänzten, waren an Dramatik und Grausamkeit kaum noch zu überbieten.

Ihren angestammten Platz als Geschäftsführerin einer Werbefirma musste sie räumen, da sie nicht mehr genügend Druckaufträge einfahren konnte. Ihr drohte der Fall ins Bodenlose. Doch dieser unwirkliche Absturz war längst noch nicht alles, was dieser aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Frau endloses Kopfzerbrechen bereitete.
All ihre Liebesbeziehungen entpuppten sich als Eintagsfliegen. Einer ihrer Auserwählten litt unter einem besonders schweren Krankheitsbild - Manische Depression.

Bei einem Arbeitsplatz in einem Fitnessstudio, war sie als Opfer gleich mehrerer fieser Intrigen auserkoren worden. So war ihr plötzlich zur Last gelegt geworden, eine ihrer Mitarbeiterinnen bestohlen zu haben. Anikas Chefin war prompt auf die Intrigen dieser Frau, die mit allen Wassern gewaschen war, hereingefallen und hatte Anika fristlos gekündigt. Ihre Unschuld sollte sich allerdings viel später noch herausstellen.

In einem Büro einer Anwaltskanzlei musste sie faktisch volle sieben Tage in der Woche Gewehr bei Fuß stehen, dazu fielen noch zahllose Überstunden an, die meistens erst gegen Mitternacht endeten.
Es kam, was kommen musste.
Völlig erschöpft sank sie in sich zusammen – die Folgen eines plötzlichen Burnout's.
Doch selbst das war längst noch nicht alles. Frau Roßmann musste den völig unerwarteten Tod ihrer Mutter innerlich verarbeiten, ihr vierzehnjähriger Sohn musste, nachdem er grundlos einer Prügelatacke zum Opfer gefallen war, ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Stationsarzt diagnostizierte eine schwere Gehirnerschütterung. Zahlreiche Schnittwunden und Prellungen erwiesen sich ebenfalls als eine schmerzvolle Angelegenheit
Sie tappte in die Hartz IV-Falle. Das Jobcenter hatte die resolute Frau, deren Leidensfähigkeit keine Grenzen zu kennen schien, sogar noch zum Umzug in eine andere Wohnung verdonnert, da ihre alte um lächerliche fünf Quadratmeter zu groß war.
Während Anika las, knisterte es förmlich vor Spannung, sodass die Zuhörer das Gefühl bekamen, der Zeiger der Uhr würde im Zeitraffertempo seine vorgeschriebene Runde herunter spulen.

Nach der Lesung bot sich für die Besucher noch die Gelegenheit Fragen an die Autorin zu stellen und dieses Buch käuflich zu erwerben.

Obwohl Mario auch nicht gerade ein fettes Portmonee besaß, berappte er die fünfzehn Euro für diesen hochinteressanten Lesestoff.
Mario war von sich selbst überrascht. Er hatte seine Scheuklappen abgeworfen und nahm vollen Mutes den Gesprächsfaden auf.
Geduldig erzählte er von seinen Schicksalsschlägen, die er durchleiden musste, aber auch, dass er unlängst begonnen hatte, in Form von Gedichten seine innere Stimme sichtbar zu machen. Erstaunlicherweise war es ihm sogar gelungen ein Lächeln, wenn auch „nur” ein haarkleines, in sein Gesicht zu zaubern.
Während Anika gespannt Marios Worten folgte, erwiderte sie sein Lächeln und schaute ihm dabei kurz, aber dafür umso tiefer in die Augen.
„Wie wär's, wenn du am kommenden Dienstagabend um sieben in unsere Literaturwerkstatt kommen würdest. Diese findest du in der Schillerstraße, in der ehemaligen Fabrikantenvilla Hauser.
Als rötliche Fleckenteppiche sich in seinem Gesicht breitmachten, bauten sich vor seinen geistigen Augen mehr als drei dicke Fragezeichen auf.
Nach mehreren Sekunden des Überlegens sagte er ihr zu:
„Warum eigentlich nicht.
…Wäre doch prima!” antwortete Mario mit wesentlich hellerer Stimme, einer Stimme, die zwar noch nicht euphorisch klang, in der aber schon ein etwas spürbarer Hauch von Optimismus schwang.
„Da hast du die Gelegenheit eines deiner Gedichte vorzulesen” , bemerkte Anika verwegen, die zu überlegen schien, wie sie auf die Röte in Marios Gesicht und die auffallenden Veränderungen in seiner Stimme reagieren sollte. Sie verließ sich auf ihr Bauchgefühl, was ihr sagte:
„ Dieser junge Mann legt nur seinen Scham ab, wenn ich ein wenig nachhelfe.”
Das Ergebnis ihrer Nachhilfe konnte sich sehenlassen. Ihr Gesicht wurde auf einen Schlag noch schöner, da die Konturen ihres Lächelns, was sowohl um ihre Mundwinkel, aber auch in und um ihre großen Augen fesch aufblitzte, sichtbar an Schärfe gewannen.
Wie würde dieses Rezept wohl auf Mario wirken?

.Die Antwort war ernüchternd, zumal nur ein gequältes, ein undefinierbares Lächeln, was er sogar noch verbarg, indem er seinen Kopf um fast eine Handlänge senkte.
Was steckte wohl dahinter?
In diesem Augenblick schienen ihm die Worte wie Kräten in seinem Hals steckengeblieben zu sein. Auch Anika bemächtigte sich des Schweigens, aber ihr Urinstinkt schien ihr zu sagen:
„Jetzt ihm noch tiefer in die Augen schauen, dann müsste er doch irgendwie antworten.
„Ich weiß nur nicht, ob ich den Mut dazu habe?”
„Brauchst keine Angst zu haben. Da sind lauter nette Leute. Da wird dir keiner den Kopf abreißen”, entschlüpfte es hell ihrem sinnlich geschwungenem Mund.

Anika hatte sich mächtig in Schale geworfen. Unter stolzem Lächeln zeigte sie ihr schmuckes Ballkleid der gehobenen Preisklasse, was so gar nicht ins Bild einer Sozialhilfeempfängerin passte. Mit hochwertigem changean Taft kreiert, leuchtete es in trendigem Lila- je nach Drehung kräftiger oder schwächer. Das weit ausgeschnittene trägerlose Oberteil, was einen herrlichen Ausblick auf ihre bezaubernde nackte Knusperhaut erlaubte, war bestückt mit zahllosen Glitzerperlen, deren Schimmer die Schlankheit ihres grazilen Bodys noch toller zur Geltung brachten. Den Rücken zierte ein breiter Reißverschluss. Ein schicker Tüllunterrock, der bei feurigen Schwüngen einen Blick auf ihre sexy Beine möglich machen würde, ergänzte diese perfekt geschnittene Kreation.
Hochhackige Schuhe mit dünnen, mit krachend hohen Absätzen erwiesen sich ebenfalls als Renner.
Unter diesem neuesten Schrei hatte sie es meisterhaft verstanden, ihren bezaubernder Esprit, ihren unwiderstehlichen Charme, ihren gesamten Sexepeal noch wirkungsvoller in Szene zu setzen.

War Anikas schriller Look, ihr grandioses Outfit, beileibe angemessen für diesen Leseabend?
Mit diesem schicken Kleide hätte sie auf Opernbällen Eindruck schinden können – aber für diesen Leseabend war es vermutlich doch eine Nummer zu groß. Da wunderte es nicht, dass Anikas fesches Kleid doch einige verächtliche Blicke auf sich gezogen hatte.
„Sozialhilfeempfängerin und so ein reizvolles Kleid – könnte sich womöglich mancher Besucher gefragt haben.
Überwogen hatten jedoch die Bewunderung und die Achtung, noch besser gesagt, die Hochachtung vor dieser tapferen Frau, die selbst in den schmerzlichsten Stunden immer wieder aufgestanden war.


Mario nahm mit einem flachen Händedruck und einem angedeuteten Lächeln Abschied von Anika. Ihr Lächeln war hingegen eine Nuance stärker, so stark, dass Marios trommelndes Herz knallige Röte auf seine Wangen schoss.
„Sei doch nicht so schüchtern. Du kriegst das schon hin!”, sagte sie mit aufmunterndem Lächeln.
„Also dann, bis Dienstag”, fuhr die Jungautorin entschlossen fort.
Unsicher wendete sich Mario von der Frau ab und warf ihr ein unsicheres „bis Dienstag” nach.
Zuhause angekommen, machte sich der Neugierige an ihren Schmöker heran.
Ein Buch, in dem knisternde Spannung den Leser schon vom Vorwort an mächtig in Atem hielt.
Mehrmals musste er eine Pause einlegen, nicht weil ihn die Leselust verlassen hatte, sondern weil einige der Leidensszenarien, die die Frau, bis ins kleinste Detail eingehend, geschildert hatte, er nicht mehr ertragen konnte. Worte, die wie eine Sintflut auf die ohnehin schon arg geschundene Seele dieses Unglücksraben hereinbrachen.
Mario hatte nicht nur die Sonnenseiten des Lebens kennengelernt, aber das was Anika durchleben musste, war nicht nur einen kleinen Zacken schärfer.
Lebensecht hatte sie geschildert, wie ihre schwerst kranke Mutter, im Krankenhaus liegend, in ihren Armen liegend verstarb. Für einen so sensiblen Menschen wie Mario das blanke Gift. Und auch als sie ihre schikanösen Behandlungen in der Arbeitsagentur mit kraftvoll zynischem Unterton belegte, brodelte es gewaltig in seinem Inneren. Als er jedoch in sich einsog, wie grausam diese Jugendlichen ihren Sohn drangsaliert hatten – selbst als er schon am Boden lag, hatten diese Rowdys noch brutal auf den Jungen eingetreten – war er fast den Tränen nahe. In Schockstarre versunken fiel sein Kopf wie ein schwerer Bleiklumpen auf den ovalförmigen langgezogenen Tisch seines Wohnzimmers. Mario vergrub diesen minutenlang in seinen Armen.
Dieses außergewöhnlich herzergreifende Buch hatte sein Herz so tief berührt, dass er selbst nicht imstande war, dieses eigenartige Gefühl, was ihn plötzlich gefesselt hatte, in Worte zu fassen. Beim Lesen dieser beklemmenden Lektüre war Mario – als er auf die dramatischen Szenen, die Anika, als sie, bedingt durch den schikanösen undurchsichtigen Dschungel in der Arge, endloses Leid ertragen musste - hatte es ihn so mitgenommen, dass er vor lauter Zorn vor seinem gemütlichen Sessel rutschte und auf dem Teppich seines Wohnzimmers landete. Eine verhältnismäßig weiche Landung – im Gegensatz zu den hammerharten Böden der Tatsachen, die den Gedemütigten leider schon viel zu oft in seinem jungen Leben eingeholt hatten. In seinen nicht abreißen wollenden Gedankenströmen schien er tatsächlich zu hören, wie stark ihr leidgeprüftes Herz um Hilfe schrie. Wohl auch der Grund, weshalb der aberwitzig anmutende Gedanke, in Anika eine engste Vertraute zu sehen, die er schon von Kindesbeinen an kannte, in Marios Kopf Knall auf Fall Einzug gehalten hatte Dem war aber nicht so. Anika war ja nur eine wildfremde Frau, eine Frau, die er vor dieser Lesung weder vom Aussehen, noch vom Namen her, kannte.


Mit sehr gemischten Gefühlen sah er dem Lampenfieber vor seinem großen Auftritt, aber auch der erneuten Begegnung mit Anika entgegen. Geduldig übte er das Sprechen, und dieses mehrmals am Tage vor dem Spiegel – achtete dabei selbst auf harmlose Fältchen in seinem Gesicht, betrachtete mit Argwohn seinen schräg sich verziehenden Mund. Marios Manko – der nur schwer in den Griff zu bekommende Hang nach Perfektion - ließ nicht zu, dass er den auf dünnem Eis sich bewegenden Paten Zufall stützen konnte.
Ja nicht ins Fettnäpfchen treten und erst recht nicht zu einer Lachnummer verkümmern, hatte sich der Ambitionen hegende Hobbyschreiber fest eingeschworen.


Mario schwebte zwischen Hoffen und Bangen, aber auch zwischen Erfolg oder Misserfolg.
Nach welcher Seite würde das Pendel wohl ausschlagen?


(Fortsetzung Teil5)
 

http://www.webstories.cc 18.04.2024 - 11:34:52