... für Leser und Schreiber.  

Die Sternengucker 1/2

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©  Siebensteins Traum   
   
Eine glasklare Nacht. Perfekt. Zwar ein wenig kalt, aber das ist halt typisch für einen Monat wie November. Die Bäume verlieren ihre bunten Blätter, das mittlerweile lieb gewonnene Jahr neigt sich seinem Ende zu, und der Winter kündigt sich schon einmal zaghaft mit etwas kühleren Temperaturen an. Die Umgebung scheint jetzt irgendwie kosmisch aufgeladen zu sein und die Menschen in dieser Jahreszeit in eine Stimmung zu versetzen, die sie offener für das Mystische um sie herum macht. Klar: lange nicht so offen, wie dies bei den Sternenguckern der Fall ist, aber gemessen an anderen Jahreszeiten doch schon überdurchschnittlich hoch.
Jens und Sabrina machen sich gerade fertig. Der Treffpunkt war für heute weit draußen in den Wäldern auf einer kleinen Lichtung geplant.
„Man, heute ist aber wirklich eine perfekte Nacht. Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie es sich anfühlen wird“, sagt Sabrina gerade zu Jens, als sie sich ihren besonders kuscheligen Pullover anzieht.
„Ich glaube, es wird toll werden. Steffen hatte schon immer ein gutes Händchen für den perfekten Zeitpunkt gehabt“, sagt Jens und streift sich seinen grauen Mantel über. Sabrina tut es ihm gleich. Fast jeder Sternengucker kann solch einen Mantel - oder zumindest einen ganz Ähnlichen - sein Eigen nennen.
„Ist es nicht seltsam, wie wenig offen die normalen Menschen für diese Art von Energien sind?“, fragt Sabrina ihren Freund.
„Ich glaube, sie haben einfach keine Zeit dafür. Es ist ja Nichts, mit dem man außer für sich selbst etwas anfangen könnte. Es ist eine sehr persönliche Erfahrung, sie bleibt selbst dann persönlich, wenn man sie mit anderen in einer Gruppe, so wie wir es heute Nacht tun werden, teilt. Es spielt sich alles lediglich im eigenen Geist, in der eigenen Seele, im eigenen Leib ab. Es ist ein Ereignis, das dich nie verlässt. Nur Du alleine weißt, wie es ist. Du kannst es auch nicht beschreiben, weil es niemand verstehen würde. Es ist etwas zu Spezielles, etwas, mit dem man eigentlich nichts weiter anfangen kann, als sich selbst daran zu erinnern. Es ist nichts Materielles, nichts, das Du anfassen kannst. Es ist eine Ressource, zu der nur Du selbst Zugang hast. Du kannst sie niemandem zeigen, keinem beweisen, dass es da tatsächlich etwas gibt. Solche Sachen versteht der Durchschnittsmensch nicht. Er kann damit nichts anfangen. Wir werden immer eine Minderheit bleiben.“
Sabrina streift sich elegant ihren Schal um ihren Hals und dann sind sie auch schon beide fertig zum Gehen.
Sie verlassen gemeinsam das Haus von Jens Eltern.
Draußen ist es mittlerweile so kalt, dass der Atem sichtbar ist. Die Luft sieht nicht nur glasklar aus, irgendwie riecht sie auch so. Die Atmosphäre, die vorherrscht, scheint irgendwo zwischen winterlich und herbstlich zu liegen. Eine absolut faszinierende Zeit des Übergangs.
Das zu Hause von Jens liegt nicht weit von dem Wald entfernt, in dem sie sich mit den Anderen Treffen wollen. Nur ein paar hundert Meter, und sie haben ihn erreicht. Den Weg durch den Wald kennen beide von Kindesbeinen an, sie könnten ihn wahrscheinlich auch blind gehen, ohne sich zu verlaufen.
Als sie schon mitten in dem finsteren Wald angekommen sind, schaut Sabrina immer wieder fasziniert nach oben. Denn durch das Kronenskelett der Bäume hindurch kann sie dort oben hie und da einen hellen Stern durchblinzeln sehen. Jedes Mal, wenn dies geschieht, scheint ihr Herz einen kleinen Hüpfer zu machen. Schon seltsam, was diese kleinen blinkenden Dinger am nächtlichen Firmament für eine Wirkung auf den Menschen ausüben können. Zumindest auf Menschen, die für so etwas empfänglich sind.
Plötzlich kommt ein heftiger Wind auf. Die Kronenskelette der Bäume über ihnen werden hin und hergeschaukelt, wodurch sie auch noch von ihren allerletzten bunten Blättern befreit werden. Diese fallen nun durch den Wind wild durcheinander gewirbelt zu ihnen herab, und auch ihre Mäntel flattern heftig mit den aufbrausenden Böen um sie herum.
Unbeirrt gehen sie weiter ihres Weges. Jeder von ihnen versucht nun, dieses doch recht ungewöhnliche Ereignis auf seine ganz eigene Art zu genießen und gleichzeitig auch in seinen persönlichen Erfahrungsschatz zu integrieren. Auf diese Weise entsteht in ihnen eine weitere kleine Schatztruhe, die mit einem interessanten weil ungewöhnlichen Erlebnis gefüllt wird und ihnen dann danach jederzeit zur Verfügung steht.
Sie lassen das Füllen der Schatztruhe ungehindert zu, möglichst ohne selbst etwas hinzu zu geben. Denn es geht ihnen dabei um die absolute Reinheit des Augenblicks, um das Pure, das Echte, das Reale daran. Sie nehmen dabei die sie umgebenen Reize wie ein trockener Schwamm auf und integrieren sie als Ganzes in ihrem Gedächtnis und so auch in ihrer Persönlichkeit. Das spätere Öffnen dieser kleinen Schatztruhe wird dann zur Folge haben, dass die Energie dieses Augenblicks ein weiteres Mal in ihnen heraufbeschworen wird und sich in ihnen die gleiche Wirkung entfaltet, wie es jetzt in diesem Moment auch der Fall ist.
 

http://www.webstories.cc 19.05.2024 - 22:40:46