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Ahrok - 68. Kapitel

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©  Jingizu   
   
Achtundsechzigstes Kapitel: Aufbruch

Ahrok war zurück in seinem Zimmer auf dem Anwesen, aber alles um ihn herum hatte sich verändert. Stühle, Tische und Bett waren noch dieselben, aber sein Leben war farbloser geworden, seine letzten Träume blasser. Er schlief nicht, denn heute Nacht fürchtete er sich wieder vor seinen Träumen und vor dem, was er dann vielleicht wieder sah. Das Leid so vieler armer Menschen dort draußen war wirklich, der Prunk hier und all seine Schwärmereien vom Ritter oder Grafen Ahrok, das war nur Schein. Selbst seine Verlobung war nicht echt. Sie war nur ein Geschäft, das einen alten Mann etwas reicher machen sollte, als er es ohnehin schon war. Seine Bezahlung dafür waren nur ein großes Schwert und ein paar Nächte mit der Nichte des Alten gewesen.
Ariane.
Das war wieder ein anderes Thema. Sie hatte nach seiner Rückkehr weder mit ihm gesprochen noch hatte sie sich auch nur blicken lassen. Irgendwo in einem der vielen Zimmer in diesem viel zu großen Haus übte sie vielleicht einen Tanz, einen höfischen Knicks oder gekünsteltes Gelächter. Ahrok nahm es ihr nicht einmal mehr übel. Man hatte sie in diese Traumwelt hineingeboren und jetzt gab es da keine Überschneidung mehr mit seiner Welt. Die Wirklichkeit hatte ihn nach Wochen des glückseligen Taumels wieder eingeholt.
Vielleicht hätte er über ihren kleinen, unbedeutenden Streit hinweggesehen, wenn sie einen Schritt auf ihn drauf zu gemacht hätte. Sie beide hätten einen Strich gezogen und überlegt, wie ein Bauer und eine Komtess es in dieser Welt irgendwie zusammen schaffen konnten. Aber sie kam nicht. Morgen würde er im Dienst für ihren Onkel abreisen. Das bedeutete also, dass dies ihre letzte Nacht war. Aber sie kam dennoch nicht.
Er wollte zwar nicht bei ihr liegen, wie es Mann und Frau taten, denn dazu war er nach den Ereignissen der letzten Tage nicht imstande. Doch jemanden in seinem Arm zu halten, einfach nur die Wärme zu spüren und wie sich der Brustkorb langsam hebt und wieder absenkt, war etwas, dass er sich in diesem Moment mehr wünschte als alles andere. Er wollte nur jemanden, der ihm sagte, dass die letzte Woche nichts als ein böser Traum gewesen war, ein schwarzer Schatten, der im Licht des neuen Tages einfach verschwand. Doch die Klinke an seiner Tür blieb stur und steif und regungslos.
Keine tröstenden Worte, kein „Alles wird wieder gut.“, keine Ariane.
Ihr Onkel hatte es ebenso vermieden, ihn auch nur mit dem Arsch anzusehen, nachdem er nach ihrer Ankunft hier wie von einer Kreuzotter gebissen aus der Kutsche getürmt war. Der Graf hatte, seit sie den Kerker verlassen hatten, nicht ein Wort mehr mit ihm gewechselt.
Ragnar und die Magd, die ihm das Abendessen auf das Zimmer gebracht hatte, waren die einzigen Personen, die sich seit ihrer Rückkehr hatten blicken lassen. Während das Essen dann nur unangetastet auf dem Tisch in der Ecke stand, hatte ihm der Zwerg die Reisepläne für den morgigen Tag mitgeteilt. Es würde früh losgehen, hatte es geheißen. Also blieben ihm jetzt noch fünf oder sechs Stunden bis zum Aufbruch. Ahrok hatte seinerseits nicht viel mit dem Valr geredet und glücklicherweise hatte auch Ragnar ebenso darauf verzichtet, ihm zwergische Aufmunterungsfloskeln an den Kopf zu werfen. Vor einer Stunde war der Zwerg dann gegangen.
Seitdem saß er hier auf seinem Bett und starrte auf eine Tür, die sich doch nicht bewegte.

Er war zurück – und doch auch nicht.
Von einem Fenster aus hatte sie die Ankunft der Kutsche gesehen, hatte beobachtet, wie er und der Zwerg ausgestiegen waren und das Haus betreten hatten. Ein kleiner Funken verdrängter Hoffnung war noch einmal aufgeleuchtet, doch dann war nichts weiter passiert. Keine Schritte, kein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür und keine Geste der Reue für sein Verhalten. Wahrscheinlich saß er auf seinem Zimmer und übte mit seinem Schwert oder schwelgte mit dem Zwerg in blutigen Erinnerungen. Es war nicht anders als die Tage zuvor. So, als ob er immer noch in diesem Loch steckte. Sie nahm es ihm nicht einmal mehr übel. Er konnte eben nicht anders. Ahrok war nicht Teil ihrer Welt. Egal wie adrett man ihn einkleidete, so blieb er doch immer nur der verlorene Junge aus dem Wald weit vor den Stadtmauern, der nur sich selbst im Sinn hatte.
Für einen kleinen Moment hatten sie einen Mädchentraum gelebt. Das einfache Mädchen und der strahlende Prinz – nur eben mit vertauschten Rollen. Es war nicht gut ausgegangen, weil es von Anfang an nicht dazu bestimmt war, gut auszugehen. Aber Hoffnung war ein böses Ding. Sie ließ sich selbst angesichts unüberwindbarer Tatsachen nicht so leicht begraben. Und so verbrachte Ariane die ganze Nacht damit, auf die Tür zu starren und auf Schritte zu lauschen, die dann doch nicht kamen.

Auf ein Klopfen an der Tür hatte er so lange gewartet, aber nicht auf dieses Klopfen. Seine Augen waren müde und schwer von der langen Nacht, denn er hatte nicht eine Minute lang geschlafen.
„Steh auf. Wir müssen los.“
Ahrok starrte weiter auf die Tür, so als hätte er die Worte nicht gehört. Die Kerze neben seinem Bett war herabgebrannt und es war dunkel im Zimmer. Es traute sich noch kein einziger Schimmer über Horizont und somit war es wohl gerade einmal sechs Uhr morgens, vielleicht sogar noch früher. Sein Hirn arbeitete nur langsam. Etwas war in ihm kaputt gegangen in dieser Nacht, aber er wusste nicht mehr, was es gewesen war. Wie in Trance erhob er sich, um dem Geräusch von Ragnars Stiefeln zu folgen.
Lange, dunkle Gänge ohne Personal. Nur der Kerzenleuchter, den der Zwerg in der Hand hielt, spendete etwas Licht. Das ganze Haus schlief noch.
Auf dem Kiesweg vor seinem Anwesen wartete bereits ein komplett herausgeputzter Graf von Lichtenstein. Ahrok nahm all das nur noch am Rande wahr.
„Seid ihr fertig?“
Es waren die ersten Worte, die er seit gestern von dem Grafen hörte und er sprach sie nicht zu ihm.
„Alles bereit“, bestätigte der Zwerg schlicht.
„Gut. Hier sind eure Rucksäcke.“ Er wies auf das Gepäck neben sich. „Vor dem Tor wartet ein Wagen, der euch bis vor die Stadt bringt. Dort werdet ihr auf die Anderen treffen.“
Ragnar warf sich einen Rucksack über.
„Na dann mach´s mal gut, Herbert.“
„Es heißt ´Herr Graf´ für euch“, erwiderte der alte Mann eiskalt.
„Drauf geschissen, Herbert – und das weißt du. Ahrok! Kommst du bald? Die fahren noch ohne uns los.“
Gefangen in einer alles lähmenden Traurigkeit brachte er es dennoch fertig, den zweiten Rucksack und das Schwert, das daran lehnte, zu ergreifen. Mechanisch schleppten ihn seine Beine einfach immer weiter.
„Hey“, der Graf winkte Ragnar zu sich. „Vergiss nicht, dass ihr mich auf dieser Reise repräsentiert! Ich meine damit vor allem, dass du aufpassen sollst, dass er keinen anderen Grafen umbringt.“
Der Zwerg hob nur die Augenbraue und stiefelte dann ebenfalls fort. Ob das nun ein „Jawohl, Herr Graf“ oder doch eher ein „Leck mich am Arsch, Herbert“ bedeutete, konnte der Graf nicht genau deuten.
Sehr schnell hatte der kleine Mann Ahrok eingeholt, weil der sich immer wieder umdrehte, um ihr Antlitz vielleicht doch noch hinter einem der Fenster zu erblicken, aber da war nichts.
Vor dem Grundstück des Grafen wartete der versprochene Wagen. Die Ladefläche war groß und bot genügend Platz für sie beide und ihr Gepäck. Vorn auf dem Kutschbock saß ein in dicke Felle gehüllter, junger Zwerg, der gelangweilt auf einem Stück Holz kaute.
Sein Rucksack landete neben Ragnar auf Wagen. Ein letztes Mal drehte sich Ahrok um, aber selbst wenn sie nun wirklich hinter einem der Fenster stand, so konnte er es aus der Entfernung nicht mehr erkennen. Es verging dennoch eine kleine Ewigkeit, ehe er auf den Wagen sprang, aber Ragnar sagte kein Wort.
„Na endlich“, brummte ihr Fahrer und gab den Pferden die Peitsche.

Wie konnte ein Mensch nur so herzlos und gefühllos sein? Die ganze Nacht hatte sie gewartet. Auf ein kleines Zeichen, auf ein Wort oder eine Entschuldigung. Nichts davon war sie ihm wert gewesen. Nichts! Er hatte einfach seinen Rucksack gepackt und war davon gefahren dieser Feigling.
Er hatte alles verdorben! Angefangen mit der Verlobungsfeier, bei der er einfach so verschwunden war. Es hätte ihr schönster Tag werden sollen, aber anstatt dass er versuchte, die letzten Tage, die ihnen blieben, gemeinsam mit ihr verbringen, zog er mit dem Zwerg um die Häuser. Als ob er den die nächsten Monate nicht ohnehin jeden Tag zu sehen bekam. Und dann ließ er sich noch einsperren und war so gemein und fies zu ihr, wie noch nie jemand zuvor in ihrem Leben. So etwas hatte sie nicht verdient. Wirklich nicht.
Sie hasste ihn. Jawohl, sie hasste diesen brutalen und gemeinen Bastard. Es wäre das Beste, wenn er auf dieser dämlichen Reise von irgendeinem Dämonen gefressen würde. Dann müsste sie ihn wenigstens nie wieder sehen.
Wieso hatte er ihr das nur angetan?
Es klopfte leise an der Tür, aber es war nur ihr Onkel, der sie einen kleinen Spalt weit öffnete.
„Sie sind fort“, waren die einzigen Worte.
Diese Gewissheit brach nun mit aller Gewalt über sie herein und spülte das letzte bisschen Hoffnung hinfort. Ariane stürzte sich bitterlich weinend in ihre Kissen.
Betreten stand Graf Herbert von Lichtenstein noch einige Augenblicke in der Tür, während er überlegte, welche Worte er ihr zu Aufmunterung zusprechen könnte, dann schloss er die Tür jedoch wieder leise und entfernte sich.

Ende des 1. Bandes "Märkteburg"
 

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