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Wahrheit, Kapitel 5/5

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© Nakita Kallehave   
   
Montag, den 14.11.1966

Meine liebste Sophie,
ich weiss nicht, warum ich dir schreibe. Oder warum ich dir geschrieben habe.
Vielleicht rief es dich für ein paar Minuten zurück ins Leben. Zumindest, denke ich, fühlte es sich für mich so an.
Heute vor 12 Jahren ist es geschehen.
Heute vor 12 Jahren hatte ich nicht auf dich aufgepasst, während du und Michael draussen in unserem Garten gespielt habt. "Klettert mir nicht wieder auf den Baum!", rief ich euch noch hinterher. Ihr strahltet über das ganze Gesicht. Ich hörte euer kindliches Gelächter, bevor ihr zur Tür hinaus stürmtet.
Bamse, von dir festgehalten, baumelte dabei fröhlich herum.

Ich hatte nicht auf euch aufgepasst. Wie konnte ich nur so dumm sein und von zwei Sechsjährigen erwarten, dass sie nicht auf den Baum klettern?
Das tatet ihr doch so gerne.
Meine Blindheit und Unaufachtsamkeit werde ich mir nie verzeihen. Es tut mir so unendlich Leid. Ich hätte da sein sollen, doch war es nicht.
Du und Michael, ihr seid auf den Baum geklettert. Er meinte, Jungen seien viel besser im Klettern als Mädchen und kämen darum viel höher.

Einer der obersten Äste war zu schwach, um selbst dein leichtes Gewicht zu tragen.

Einer der untersten Äste war stark genug, um deinen kleinen Schädel zu brechen.

Als die Ärzte noch unterwegs waren, legte Michael deinen Bamse mit zitternden Händen neben dich.

Als die Ärzte noch unterwegs waren, starbst du. In meiner Umarmung.

Diese Tatsache, diese Wahrheit, ist das Schlimmste. Vor ihr hatte ich 12 Jahre lang zu viel Angst, als dass ich sie hätte akzeptieren können. So sehe ich das Einschleusen in die Psychiatrie als eine milde Strafe für meine Feigheit und meine Schwäche.
Bitte verzeih mir, wenn ich zu dem Ort komme, wo du jetzt bist.

Ich liebe dich noch immer von ganzem Herzen und werde es immer tun,
deine Mam
 

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