... für Leser und Schreiber.  

Himbeermädchen

170
170 Stimmen
   
©  Tis-Anariel   
   
Knochen verknirschen
unter der Wucht des Tages,
der nicht der meine ist,
obwohl es mein Herz ist,
das Blut durch diesen Körper pumpt,
obwohl es meine Bewegung ist,
die Atem in diese Lungen füllt.

Wie scharfes Dornengeflecht,
umwinden mich
ungesehene, spitzfindige Zwänge,
die nicht zu mir gehören,
die nur auferlegt von anderen.
Sie verstehen nicht, niemals.
Sie waren nie in dieser Situation.

Mit einem unwilligen Aufschrei reiße ich mich los,
ziehe mir eigenhändig die Stahlspitzen aus dem Fleisch.
Mein Wille ist es, der nun mein Blut vergießt!
Mein Wille ist es, der nun Atem in meine Lunge pumpt.
Schritt um Schritt entwinde ich mich der Umklammerung.
Fort nur fort! Fort nur fort von hier!

Doch ich sehe mich
anderem Dornengeflecht gegenüber,
dieses hier jedoch lebt und weicht zurück,
wenn du nur weiß wie du es betreten musst.
Es ist eine Hecke. Es ist die Hecke!

In der Hecke lebt ein Mädchen,
nenn sie Himbeermädchen.
Sie durchstreift achtsam das stachelige Reich
und erreicht als einzige
die dicken, wohlschmeckenden Früchte,
die dort wachsen.

Sie ist geduldig, wo meine Geduld endet.
Sie ist mutig, wo ich vor Angst zittere.
Sie ist zuversichtlich, wo ich nur noch zweifle.
Sie ist bescheiden, wo ich in ängstlicher Gier
an unwichtigen Dingen festhalte.

Ich habe mich
euren Schlingen und Griffen entwunden.
Ich habe die zerknirschten Knochen befreit
und werfe sie nun verächtlich
in eure weitaufgesperrten, gierigen Mäuler.

Es ist mein Blut, es ist mein Atem,
es ist mein Herz und meine Lunge.
Es ist mein Körper , mein Leben
und ihr habt darüber nicht zu bestimmen!

Lachend streife ich die Reste
von der armen, ängstlichen Kreatur ab,
die ich einst einmal gewesen und
schlage mich zuversichtlich in die Hecke.

In der Hecke lebt ein Mädchen.
Das Mädchen bin ich.
Nenn mich Himbeermädchen.


©Anariel 27.07.2012
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 17:07:05