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Feindberührung (Dritte Weihnachtsgeschichte)

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© Michael Kuss   
   
Die folgende Geschichte habe ich zwar geschrieben, aber es handelt sich um eine Nacherzählung einer ähnlichen wahren Begebenheit, die schon in anderen Varianten besteht und auch in einem etwas anderen Ablauf bereits verfilmt wurde:
(Foto links: Schlacht von Verdun. Feindliche Soldaten helfen sich gegenseitig).
*
FEINDBERÜHRUNG.
Mit klammen Fingern hielt er den Bleistiftstummel und schrieb im letzten Licht des lothringischen Wintertages. Noch war kein Schnee gefallen und die Franzmänner hatten schon seit mehr als einer Stunde das Dauerfeuer der Granaten eingestellt. Die Soldaten waren aus dem Graben zurück in den Unterstand gekrochen, hatten auf ihrem Weg ein paar Leichen in den Graben gezogen, an Geist und Körper zu müde, um sie gleich zu verscharren. Also blieben sie liegen, mit dem Gesicht nach unten, denn man wollte nicht in diese starren Augen schauen, aber auf dem toten Rücken ausruhen oder sich dahinter verstecken gegen die feindlichen Granatsplitter, das konnte man schon.
Den kleinen Erfurter aus dem dritten thüringischen Füsilierregiment hatte es erwischt, in drei Teile war er zerrissen, ein Schrapnell steckte im Kopf, ein anderes in der abgerissenen Hand. Aber das würde er nicht nach Hause schreiben, sie sollten sich nicht ängstigen, sondern stolz sein auf den Sohn, der hier für Volk und Vaterland und natürlich für den Kaiser auf der Höhe zwischen Maas und Somme dem Franzmann tapfer die Stirn bot.
„Liebe Mutter“ kritzelte er auf das graue Feldpostpapier, das er auf dem Tornister ausgefaltet hatte. „Liebe Mutter, wir sind alle guten Mutes. Es geht vorwärts. Heute Morgen hat der Herr General von Falkenhayn in einem Tagesbefehl den Soldaten noch einmal das Ziel erklärt: Wir müssen die Höhen von Verdun erobern und die Franzosen und alle Feinde binden, damit das deutsche Heer ungehindert und möglichst ohne Verluste weiter nach Paris vorrücken kann, siegreich wie Anno 1870, und wenn wir das bald geschafft haben, dann ist der Krieg zu Ende und ich komme nach Hause, liebe Mutter …!“
Als das Pfeifen der französischen Granaten wieder einsetzte und die verbrannte Erde zwischen den mürben Holzbalken in den Unterstand hereinbrach, stopfte er den Brief in die Uniformtasche. Seit zwei Tagen hatten er und die Kameraden kaum eine Stunde geschlafen. Wie Schatten rannten sie geduckt in den Graben zurück, die Bajonette aufgepflanzt, die Feindberührung erwartend.
Die Einschläge kamen näher. Er dachte an den Tod und an seine Mutter und an die Braut in Weimar, als die ersten französischen Grenadiere im Stacheldrahtverhau auftauchten und schreiend auf ihren Graben losstürmten. Instinktiv, wie er es gelernt hatte, hob er das Bajonett, spießte den ersten Franzmann auf, zog das Gewehr aus dem Körper, schob den röchelnden Mann zur Seite und stürmte weiter. „Hurra!“ schrie er. „Hurra!“
*
Ein Jahr war vergangen.
Nahezu unverändert lagen sich die Feinde auf den Höhen über Verdun gegenüber. Es hatte ein paar bedeutungslose Geländegewinne auf beiden Seiten gegeben, sie wurden zurückerobert, die Kameraden waren gefallen, am Gas erstickt, von den Bajonetten aufgespießt, von Kanonenkugeln und Handgranaten zerstückelt, vor Hunger, Nässe und Übermüdung umgefallen wie Eintagsfliegen, lagen sie herum, bergeweise, überall Leichengeruch, man munkelte von über einhunderttausend Mann auf jeder Seite, aber neues Kanonenfutter war gekommen; der Kaiser und seine Generäle waren Organisationstalente und Marschall Petain auf der anderen Seite wollte ihnen nicht nachstehen.
Aber die Soldaten hatten das Heldentum und das große Ziel längst aufgegeben und hielten nur noch die Stellung, um zu hoffen und vielleicht zu überleben.
So kam der Heiligabend heran.
Ohne klaren Befehl und ohne Absprache war es auf beiden Seiten ruhig geblieben. Man hatte die Toten zusammengetragen, in einen großen Granattrichter gelegt und mit Kalk überstreut. Er und die Kameraden hatten ein paar Stunden unruhig geschlafen, auf eisigem Boden in stinkenden Klamotten, die man seit ungezählten Wochen am ungewaschenen Körper trug, immer in der Erwartung des Feindes; ein unruhiger Halbschlaf, von wirren Albträumen zerrissen.
Aber alles war ruhig geblieben und nun war Heilige Nacht über den Höhen von Verdun. Das Dorf, in dem sie sich verschanzt hatten, war längst ausgeblutet, nur noch das zerschossene Mauerwerk der Kirchenruine war im Mondlicht zu erkennen, die verbrannte Erde hatte die Toten bedeckt; ein paar Gewehrbajonette ragten wie letzte Hilferufe aus dem fauligen Laub und ihre Träger verfaulten darunter.
„Liebe Mutter“, schrieb er. „Es ist schon wieder Weihnachten! Ich habe mich rasiert. Auch die Kameraden sind guten Mutes. Manche flicken ihre Uniformen oder lesen die Briefe ihrer Lieben von zu Hause. Es hat heute eine Extraration Erbsensuppe, Zigaretten und sogar etwas Schnaps gegeben. Bestimmt wird sich alles zum Guten wenden. Ich bin wohlauf und werde sicher bald nach Hause kommen, lange kann dieser Krieg nicht mehr dauern. Auch wenn wir diesmal nicht bis Paris kommen, so werden wir doch hoffentlich bald glücklich wieder zu Hause bei euch Lieben sein …!“ Von seiner Angst und der trostlosen Lage schrieb er nichts; das brauchten die Lieben in der Heimat nicht zu wissen ...
Die Stille dieser Nacht war so verlockend, dass sie zuerst die Köpfe über den Grabenrand streckten, noch immer das Gewehr sichernd im Anschlag. Aber auch bei den Franzosen blieb es ruhig; man konnte sogar die ersten Feinde schattenhaft sehen, wie sie vor ihren Gräben saßen, fast andächtig, nachdenklich, den Kopf in die Hände gelegt oder in den Himmel gerichtet. Einige liefen sogar unbekümmert herum und schüttelten die Glieder aus; sie schienen so nahe, dass man ihnen zurufen oder sie fast mit den Händen hätte herbei ziehen können.
Nirgends war ein Mörser zu hören oder sonst ein Kriegsgeräusch. Man konnte die Bäume rauschen und unter den Füßen das winterliche Knirschen der Erde hören. Es war, als hätte diese Heilige Nacht einen unerwarteten geheimnisvollen Frieden über die Menschen gebracht, als wäre der Krieg zu Ende und alle Beteiligten könnten sich befreit und glücklich ohne die geringste Feindseligkeit in die Arme fallen.
In diesem Moment hörten sie die Musik.
Ein Soldat hatte einen Lautsprecher auf den Grabenrand gestellt. Wie zarte Schwingungen aus einer verzauberten Welt schwoll das Lied an und schickte seine Botschaft über Freund und Feind: „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ Die ersten Männer stimmten in das Lied ein. Französisch auf der einen, Deutsch auf der anderen Seite des Stacheldrahtes; schließlich drang die Melodie bis zu den Grenadieren hinüber, die an der südlichen Flanke lagen.
Leise, zaghaft, fast scheu kamen die rauen, unbeholfenen Stimmen aus der Dunkelheit heraus. Stille Nacht, Heilige Nacht! Es war, als würde der schwarze Himmel aufbrechen und Licht senden, um die Herzen der Menschen zu erwärmen und die Sinne zu erleuchten.
Und dann lösten sich die Schattengestalten; wie von einer unbekannten Kraft gezogen rappelten sie sich auf, gingen von jeder Seite auf den Stacheldraht zu, schnitten ihn durch, schoben ihn zur Seite, und plötzlich, noch zögernd aber dann wie eine befreiende Erkenntnis, nahmen sich deutsche und französische Soldaten in die Arme, legten ihre müden Hände um müde Schultern. Und sie weinten.
Bonne fete noel!
Frohe Weihnachten!
Sie brachten Rotwein herüber, tranken und rauchten gemeinsam und sie sprachen mit den Augen, holten Fotos ihrer Lieben aus den Brusttaschen und zeigten sie herum, stolz und liebevoll, und sie wurden sich der Absurdität dieses Krieges und aller Kriege bewusst.
Am ersten Weihnachtsfeiertag trafen sie sich erneut zwischen den Fronten und bildeten eine Fußballmannschaft. Sie kickten mit zusammengebundenen Lumpen, das Spiel endete unter großem Jubel mit vielen Toren, man hatte das Zählen vergessen, dann trank man wieder Rotwein und Schnaps, teilte die Plätzchen und Kuchen aus den Weihnachtspaketen, bis von den Offizieren das Signal für den Rückzug ins eigene Lager ertönte.
In der gleichen Nacht kam es zur Feindberührung und bei Granatangriffen kamen auf beiden Seiten über zweitausend Soldaten ums Leben; darunter vierzehn der zweiundzwanzig Fußballspieler. Fünf anderen wurden Füße und Beine abgerissen, mit denen sie sich ein paar Stunden zuvor wie übermütige Kinder um den Ball gestritten hatten.
Der letzte Brief an die Mutter wurde nie abgeschickt; man fand ihn halb fertig in seinem Tornister. Der Brief hängt heute eingerahmt zwischen anderen Erinnerungen in der Gedenkstätte von Verdun. Schulklassen absolvieren ihre Pflichtbesuche. Aber es kommen weniger Menschen als zu einem Sportereignis, doch wer kommt, wird nachdenklich.
 

http://www.webstories.cc 02.05.2024 - 06:17:45