... für Leser und Schreiber.  

Keine Visionen, keine Klasse, keine Persönlichkeit....

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© Michael Kuss   
   
In einer seriösen Gesprächsrunde wurde ich vor einiger Zeit gefragt, was ich von der gegenwärtigen deutschen Politik und vor allem von den meisten unserer Politiker halte und ich kam spontan zu folgender Antwort:
"Wer heutzutage in die Politik geht oder schon drin ist, hat in der Regel das Niveau und die Fähigkeit, einen Geflügelzuchtverein zu leiten, oder glaubt wenigstens eine mickrige Nebenrolle im Vereinsgetriebe übernehmen zu können. Viel Gegackere, peinliche Hahnenkämpfe um Eitelkeiten, Macht und Positionen, obwohl die Perspektiven und Fähigkeiten gerade bis zur nächsten Vorstandswahl oder bis zur kommenden Hühnerschau reichen. Dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten führt logischerweise zu potemkinschen Dörfern, in denen wir dann mit Mief und Mittelmäßigkeit von der Hand in den Mund herumdümpeln. Es fehlt an Visionen, an Klasse, an Persönlichkeiten, an Durchsetzungskraft und Durchsetzungswillen".
Das sind meine ersten Gedanken, wenn ich eine Aussage zur gegenwärtigen und zukünftigen Politik und Gesellschaftsgestaltung machen soll. Aber bin ich Karl Marx, Adorno, Sartre oder Einstein oder jemand aus der griechischen Mythologie, um hier eine Analyse vornehmen, Perspektiven aufzeigen oder Mahnungen aussprechen zu können? Oder bin ich nicht genauso Mittelmaß und Durchschnitt wie unsere Politiker? Denn offensichtlich gibt es da einen Zusammenhang, eine unheilige Symbiose zwischen Wählern und Gewählten.
Als Kind und Heranwachsender hatte ich noch die Idealvorstellung, ein Lehrer oder ein Polizist, eine Bürgermeisterin oder ein Abgeordneter, meine Eltern oder der Herr Pfarrer seien immer Vorbilder: Hilfreich, rein, selbstlos und idealistisch! Sie wüssten - jeder in seinem oder ihrem Arbeitsbereich - zu lenken und zu leiten, sie hätten Ideen und Perspektiven, mitunter würden sie sogar Visionäre sein, könnten begeistern und überzeugen, und sie würden nicht nur verantwortlich bis zu ihrer eigenen Rente denken und handeln, sondern bis weit über die Urenkel über ihren eigenen Clan hinaus auch an Nachbarn und Umwelt denken.
Na schön, zugegeben, das wäre ein bisschen zu paradiesisch; so viel idealistischer Perfektionismus ist wohl nur im Traum erhältlich. Besonders angesichts von Banken- und Flughafenpleiten, geschredderten Geheimdienstakten, vertuschten Parteispendengeldern oder - in betrügerischer Absicht - geschönten und gefälschten Armutsberichten.
Aber müssen es denn gleich jene Niederungen sein, in denen wir jetzt mehr herumstochern als gestalten? Und dabei denke ich nicht nur an die eitlen Möchtegerns, Eigenversorger und Unter-den-Teppich-Kehrer egal welcher Regierungskoalitionen. Wer sich einmal sehr genau im Fernsehen eine Parlamentsdebatte anschaut, bekommt eher den Eindruck, als würde es sich um Büttenreden eines Karnevalvereins, Helau und Alaaf, oder um eine Märchenstunde des Lügenbarons von Münchhausen handeln.
Wo sind sie, die demokratischen, die humanen Gestalter, die endlich merken, dass die Interessen einer globalisierten Wirtschaft längst den Parlamenten Motor und Ruder aus der Hand genommen haben? Wenn sie diese Werkzeuge denn jemals wirklich in Händen hatten. Wo sind die Weitsichtigen, die Analytiker, die Generationen übergreifend sich an die Stichworte "soziale Gerechtigkeit, Frieden, Waffenexporte, Bankenkrisen" heran wagen? Wer erkennt - und zieht daraus Schlussfolgerungen - dass die grenzüberschreitende Kriminalität uns lange Nasen macht, weil die polizeiliche Zusammenarbeit sich in mittelalterlicher Kleinstaaterei abspielt und jeder nur bis zum eigenen Tellerrand schaut?!
Wer denkt bei "Völkerwanderung und Immigrantenströme" an mehr als an ein Flüchtlings-Auffanglager in Nord-Afrika? Oder gar an militärische Auslandseinsätze!?" Wo sind sie, die Weitsichtigen, die die Ausmaße unserer Umweltkatastrophen einsehen und mit Nachdruck dagegen einschreiten? Spätestens bei unseren Clowns und Marionetten der Politik-Elite bemerken wir unsere Hilflosigkeit, denn wir haben sie ja nur als Ersatz und Alibi für unsere eigene Hilfslosigkeit gewählt. Oder haben wir tatsächlich geglaubt, durch unsere "Wahl" würde sich etwas ändern? Die profunden Entscheidungen unserer Gesellschaft werden ganz woanders getroffen. Wir dürfen - wie bei der Kinderspielzeugeisenbahn - ein bisschen herumrangieren; die Weichen stellen andere! Die Richtung wird von Kapitalinteressen bestimmt! Und um uns Sand in die Augen zu streuen, gibt man uns zwischendurch "Brot und Spiele", gibt uns drei Mal wöchentlich Fußball, ab und zu sogar Weltmeisterschaften, Autorennen, Deutschland sucht den Superstar oder andere hochintelligente Fernsehprogramme und die bürgerliche (nicht nur Springer)presse trichtert uns ein: "Euch gehts doch gut! Seht mal, welche Auswahl! Das ist alternativlos!"
Und schon gerate ich in Konflikte mit meinen eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten, die sich ja auch in Grenzen halten. Aber darf ich deshalb nachsichtiger mit Politikern sein, die doch eigentlich Hehres versprochen hatten, und sich dann doch als ganz normaler Bürgermief, als schlichter Durchschnitt mit Vereinsgehabe entpuppen?
Jede Medaille hat bekanntlich mindestens zwei Seiten. Wir, das Volk, sind - im großen Maße - nämlich genau so miefig, genau so kleinkariert, genau so ideenlos! Wir kontrollieren nicht! Wir hinterfragen nicht! Wir geben keine eigenen Impulse! Aber wir fordern! Mehr Geld, mehr Wohlstand, mehr Sicherheit von "denen da oben"! Und weil "die da oben" (welch schrecklicher Begriff, denn er impliziert ja auch "Wir hier unten!") uns befriedigen müssen, damit wir bis zur nächsten Wahl das Maul halten, versprechen sie das Blaue vom Himmel (und brechen es, noch bevor sie das Maul geschlossen und auf ihren Polstersessel Platz genommen haben). Seit Jahrzehnten! Zwei Löcher aufwühlen und nur eins zuschütten! Einen Schritt vor und zwei zurück! Eine verlogene Milchmädchenrechnung, wer dabei an "Ausgleich" denkt. Alle Seiten dieser Gesellschaft verantwortungslos wie Vogel Strauß und asozial wie ein Kuckuck.
Manchmal habe ich den Eindruck, als würden wir wie Nichtschwimmer, wie hilflos Suchende in einem reißenden Fluss treiben. Zwischen uns treiben unsere Politiker; verkrampft recken sie die Arme hoch und schreien großspurig "Folget mir, ich bin die Rettung!" Dabei steht ihnen selbst das Wasser schon bis zum Hals und sie retten höchstens das eigene banale Leben, den eigenen zusammengeramschten Profit. Und selbst dabei schanzen sie sich noch die besten Posten zu: Wer als Entwicklungsminister abgewirtschaftet hat, wird schnell noch Verteidigungs- oder Finanzminister oder nach Brüssel weggelobt. Und wir, das Volk, wir blöken dazu wie die Schafe.
Zurück zur Frage nach meinen Erwartungen: Es ist die Hoffnung, dass das Gegenteil meiner negativ- fatalistischen Beschreibung eintritt! Es ist die Hoffnung, dass es in jeder Generation Leute mit konstruktiven Visionen, mit Durchsetzungsvermögen, mit Glaubhaftigkeit geben wird; dass das Herumstochern und das Suchen der Stecknadel im Heuhaufen und der Marktplatz der Eitelkeiten wenigstens zwischendurch mal unterbrochen wird. Und es ist die Hoffnung, dass ich selbst versuchen werde, diesen Ansprüchen näher zu kommen. Unterdessen wird die Welt sich hoffentlich irgendwie weiter drehen und uns vor dem Schlimmsten, vor Krieg oder Faschismus bewahren ...

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http://www.webstories.cc 26.04.2024 - 14:09:43