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Kawuttke und andere Asoziale

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© Michael Kuss   
   
"Der Angeklagte besitzt keine Moral!" sagt der Anklagevertreter. Kawuttke zuckt zusammen. Der Staatsanwalt fährt fort. "Seine gesamte asoziale Laufbahn ist von Unmoral gekennzeichnet! Wir müssen der steigenden Jugendkriminalität Einhalt gebieten und drakonische Strafen anwenden!"
Kawuttke weiß nichts zu antworten. Logisch! Der Mann in der schwarzen Robe hat ja Recht. Mit Kawuttke war es bergab gegangen. Stück für Stück. Die Urteilsbegründung bestätigt die Schwere von Kawuttkes unmoralischen Handlungen. Seinem Vater hatte Kawuttke in der kleinen Plattenbauwohnung die Fresse poliert, nur weil der im Suff Tochter Babsi öfters mal untern Rock gegriffen und Ehefrau Karin ein paar Veilchen um die Augen verpasst hatte. Diese läppischen Familien-Querelen waren noch lange kein Grund, auf der Straße herumzugammeln oder sogar zu klauen.
Dann auf der Flucht Schwarzfahrt im ICE. Frech im Klo eingeschlossen. Von wegen kein Geld. Lächerlich! Wer kein Geld hat, braucht nicht im ICE zu fahren.
Es folgten dreimal Ladendiebstahl (darunter vierhundert Gramm hochwertigen gekochten Schinken; - eine einfache Fleischwurst war Kawuttke nicht gut genug, unverschämt musste es gleich gekochter Schinken vom Feinsten sein!) und zweimal die Zeche geprellt. (Einmal ein Wienerschnitzel mit Salat im gutbürgerlichen Gasthof Zum Ochsen, einmal in Ali Babas Döner-Kebab-Schnellrestaurant). Schamlos bestellt, unverschämt drauflos gemampft und dann übers Toilettenfenster die Fliege gemacht. Deutlich kriminelle Energie! Der Gesamtschaden immerhin Vierundzwanzigachtzig!
Von wegen "Hunger gehabt". Ganz billige Ausrede. Schutzbehauptung! "Wenn jeder auf solche Methoden zurückgreifen würde", resümiert der Staatsanwalt, "wäre das Rechtssystem unseres demokratischen Rechtsstaates gefährdet! Das moralische und soziale Zusammenleben in unserer Gemeinschaft wird von Menschen wie Walter Kawuttke infrage gestellt, ja sogar ad absurdum geführt!"
Mit dem kurz darauf erfolgten Autoklau und Fahren ohne Führerschein war Kawuttkes kriminelle Energie nicht erschöpft. Er muss auch noch einen Scheck fälschen (davon hatte er sich modernste Winterklamotten und einen Schlafsack gekauft, womit seine weitere asoziale Herumtreiberei überhaupt erst ermöglicht wurde) und zum Übernachten in die Gartenhütte des Eisenbahners Emil Eichberg einbrechen, bevor ihn die Polizei überrascht und in einer halsbrecherischen Verfolgungsfahrt in den Schrebergärten stellt, endlich der Justiz übergibt und somit unsere Gesellschaft vor weiteren Übeltaten des Walter Kawuttke beschützt.
"Mit dieser Strafe soll eine abschreckende Signalwirkung gegeben werden!" erklärt der Richter. "Wer sich wie der Angeklagte außerhalb unserer moralischen Grundbegriffe stellt, muss die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen! Hier geht die Justiz endlich Hand in Hand mit der Politik!" Beifälliges Nicken im Zuschauerraum. Nur vereinzelt skeptische Gesichtszüge.
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Die Zellentür wird zugeschlagen. Mittelalterlich dumpf krachen die Riegel in die Scharniere. Beamtenschritte entfernen sich federnd.
Stille! Einsamkeit! Dreimal zwei Meter für Kawuttke. Ein klappbares Bettgestell, Tisch, Schemel. In der Ecke das Scheißhaus, immerhin mit einer spanischen Wand als Sichtschutz. Der Lichtstrahl aus dem Bunkerfenster lässt die Staubwirbel tanzen. Kawuttke lässt sich auf die Pritsche fallen. Zwölf Monate! Wenn er hier herauskommt, hat er fünftausend Euro Schulden, Schadenersatz und Gerichtskosten. Keine Arbeit! Keine Freunde! Keine Wohnung! Moral hat ihren Preis und Strafe muss sein. Nur so kann eine demokratische Gesellschaft funktionieren.
Zwischen der Arbeit (Kawuttke leimt Kinderspielzeug aus vorgefertigten Holzteilen zusammen, für vier Euro pro Tag, Kost und Logis werden abgezogen, den Rest bekommt er bei der Entlassung als Startkapital ausbezahlt), also zwischen Arbeit und Zelleneinschluss hat Walter Kawuttke Zeit zum Lesen. Lesen bildet und Kawuttke liest! Statt Bild und Super-Illu liest er jetzt TAZ und FAZ und Spiegel. Dazu hatte er früher, draußen, weder Zeit noch Bock. Jetzt prägt sich Zeile für Zeile in Kawuttkes Zellen ein. Staunend liest er täglich neue Meldungen und denkt darüber nach.
Da mogeln Großbanken - sonst Sittenwächter und Abzocker kleiner Gehaltskonten - clever ein paar Millionen in die Geldwäsche oder verspielen als Global Player Milliarden auf internationalen Märkten. Wörldweit Bizziness! Manager setzen gezielt eine Firma in den Bankrott und dreitausend Beschäftigte auf die Straße. Und betrügerische Zocker-Banken werden mit Steuermilliarden "gerettet", die jeder einzelne von uns bezahlen muss. Deshalb denkt der naive Kawuttke in seinem verwirrten Kopf: "Wieso dürfen die um Millionen betrügen, aber sie bekommen Bonis und landen auf einem Chefsessel, und ich mit meinen paar Euro lande im Knast?!"
Falsch gedacht, lieber Kawuttke! Das siehst du aus völlig schiefem Blickwinkel! Das ist kein Betrug, sondern Neuer Markt und Globalisierung. Outsourcing ist kein Straftatbestand und Aktien-Spekulation schon überhaupt nicht. Die sind vom Gesetz geschützt. Das musst du nur alles vom richtigen Blickwinkel sehen, mein lieber Kawuttke!
Korruption, Schmiergeldzahlung, Betriebsräte mit Bordellbesuchen, Waffengeschäfte von Managern mit Spitzenprovisionen, die weltweit verscherbelten Waffen töten Menschen, aber das ist kein Mord, sondern ethnische Säuberung und staatsmännisch verantwortungsbewusstes Preventivhandeln, Freundschaft mit jeder Diktatur, solange die Wirtschaftsverträge eingehalten werden, zumal die Aktienkurse steigen und die Börse jubelt und die Ölquellen sprießen. Schau dir doch mal die Kursgewinne an, wenn irgendwo ein Krieg provoziert wird; klick' doch mal von Big-Brother auf Big-Bissness! Kapito Kawuttke?
Atom- und Giftmüll werden verscherbelt, ein Politiker des Betruges überführt, ein Parteifreund des Ministers als Steuersünder entlarvt, auch keine Kleckerbeträge, sondern - wenn schon, denn schon -, gleich zig Millionen. Oder Gewinne durch Gammelfleischprofite, denn nur Gammelfleisch stinkt, das Geld aber nicht. Betriebsschließungen nach Heuschreckengewinnen und Subventionsabzocke. Da kann es doch keine persönliche Verantwortlichkeit geben!
Das ist höhere Gewalt! Das sind Sachzwänge! Gott, oder Allah oder weiß der Geier welcher ungreifbare Allmächtige hat hier die Hand im Spiel. Dafür kann man doch niemand persönlich haftbar machen oder gar ins Gefängnis stecken!
Na schön, zugegeben, einige treten zurück und beteuern scheinheilig: "Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen, aber aus Gründen der Staatsraison ... und um Schaden von meiner Partei abzuwenden, opfere ich mich ...!" und fallen nach einer Schamfrist zwei gepolsterte Etagen höher. Andere propagieren die deutsche Leitkultur und machen Neo-Nazis salonfähig, während sie sich beim Bundespresseball oder im Kanzleramt mit Sekt und Kaviar aus Steuergeldern moralinsaure Intrigen zulächeln, den Fächer noch schamhaft vorm Dekolleté und das Schlachtmesser schon schamlos unterm Dinnerjacket.
Heuchelei ist nicht strafbar, sondern ein Gesellschaftsspiel wie Monopoly. Worte wie Ehre, Vaterland, Ethik, Leitkultur, Demokratie, Integration und globale Interessen schwelgen durch Presseerklärungen wie miese Büttenreden zwischen besoffenen Karnevalisten. Mit glänzenden Augen aufgenommen und wie der letzte Modeschrei beklatscht. Alaaf und Helau die Moral! Schau's dir im Fernsehen an! Nicht nur zwischen Elftem Elften und Aschermittwoch. Jede Tagesschau liefert solche Lachbomben; man müsste sich eigentlich bepissen.
Lieber Kawuttke! Beschwere dich nicht und halt' die Schnauze! Für Großes hast du keinen Stil! Dazu bist du zu dumm! Wer sich mit Kleckerkram abgibt, ist es nicht wert, in gehobenen Positionen unserer Gesellschaft zu sitzen und Richtung und Moral zu bestimmen. Die kleinkarierte Dummheit der Kawuttkes gehört doppelt bestraft. Kreuzigt Kawuttke! Ab in den Kerker und den Löwen zum Fraß!
Unsere Gesellschaft bewundert nicht die kleinen Eierdiebe, sondern hegt Bewunderung und Hochachtung für die Großen, die Abgebrühten, die coolen Macher und cleveren Trickser. Deshalb: Wählt die Deutsche Bank und die Pharma-Lobby in den Bundestag und Maschmeier for Präsident.
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http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 00:21:50