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Berlin-Neukölln ist nicht Somalia

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© Michael Kuss   
   
Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich habe nicht allzu oft Gelegenheit, mich jemand anzuvertrauen. Auch nicht meinem Mann. Er ist zwar mein Herr und Gebieter, aber nicht mein Vertrauter. Seine Worte sind für mich Gesetz. Aus guten Gründen werde ich sie befolgen; ich habe es nicht anders gelernt und kenne die Auswirkungen bei Nichtbefolgung. Das war bei meiner Mutter und Großmutter in Somalia so; es ist jetzt nicht viel anders in unserer neuen Heimat in Berlin-Neukölln, und ob es sich überhaupt einmal ändern wird, das liegt alleine in Gottes Hand.
Als kleines Mädchen wurde ich beschnitten. Nein, ich rede nicht von Bäumen oder Pflanzen, die beschnitten und veredelt werden. ICH wurde veredelt und zur Frau gemacht! Es geht um meine Scham und um die unaussprechlichen bösen Teile zwischen meinen Beinen. Es schmerzt heftig und lange, denn sie werden von einer Heilerin mit einer Rasierklinge abgeschnitten und dann wird fast alles zugenäht. Natürlich ohne Betäubung, wir sind arm, aber meine Mutter, zwei Tanten und drei Nachbarinnen knieten hilfsbereit auf mir, hielten meinen Mund zu und drückten meine Arme und Beine nach unten. Später gewöhnt man sich an den Schmerz, wie man sich an alle Schmerzen des Lebens gewöhnt.
Schwierigkeiten macht mir allerdings die Toilette; es ist eben fast alles verschlossen und das Wasserlassen ist ein bisschen problematisch, aber nur dreimal am Tag und selten in der Nacht. Und meine monatlichen Blutungen reißen mir zwar die Seele aus dem Leib, aber da muss eine afrikanische Frau durch, das ist Tradition und ehrenvoll und von Gott gewollt. Es steht zwar nichts davon in unseren heiligen Schriften, aber es wurde mündlich jeweils von den Dorfältesten überliefert. Und wofür braucht eine Frau eine Scheide, als zum Wasserlassen und zur Familienplanung?! Das verstehe selbst ich, die nie eine Schule besucht hat.
Man hat sogar ein bisschen Platz zwischen meinen Beinen gelassen, damit mein Mann mich befruchten und sich erleichtern kann. Er passt da gerade noch hinein, was bisher neunmal in den letzten sieben Jahren meines jungen Lebens geschah; fast jedes Mal ein Volltreffer, vier davon sogar lebend, Gott beschütze alle meine Kinder, die lebenden und die toten.
Vor jeder Entbindung wurde meine Scham aufgetrennt und danach wieder zugenäht, aber fast ohne Narben und nur wenige Entzündungen; das Meiste ist wieder glatt und verheilt, also ich hatte viel Glück in meinem Leben.
Ach ja, mein Mann, - auch das hätte schlimmer kommen können! Früh hat ihn meine Familie für mich ausgesucht. Der älteste Sohn meiner Großtante. Im Alter von zwölf Jahren durfte ich bereits das Glück der Ehe und der Liebe auskosten; es hat ihn drei Ziegen, ein Kamel und drei Säcke Getreide gekostet, mehr besaß er nicht, wir waren eben alle arme und einfache Leute dort unten in Afrika, aber hier in Neukölln geht es uns besser, mein Vater bekommt Sozialhilfe, mein Bruder arbeitet bei McDonalds am Spültisch und ich habe drei Putzstellen. Aber mein Mann konnte sich damals nur eine einzige Frau leisten, obwohl ich ihn manchmal gerne mit einer anderen teilen oder gleich ganz auf ihn verzichten möchte, Gott sei mit ihm, aber wie gesagt, es hätte schlimmer kommen können und ich will auch nicht klagen …
Nur selten schlägt er mich, und wenn, dann hören es die Nachbarn nicht, die Fernseher am Neuköllner Rollberg sind laut und mein Wimmern ist leise.
Aber ich habe Strafe verdient, denn manchmal schaue ich unverschleiert aus dem Fenster oder ich schalte ohne meines Mannes Erlaubnis den Fernseher an, und einmal habe ich heimlich einen Lippenstift ausprobiert, doch meistens genügt der strafende Blick meines Gebieters, damit ich mich einordne und der Ledergürtel meines Mannes nicht zum Einsatz kommt.
Meine älteste Schwester wollte sich damals nicht unterordnen. Sie weigerte sich nicht nur, den ihr von Gott und Familie bestimmten Großonkel zum Ehemann zu nehmen. Nein, mit einem 14-Tage-Touristen aus Deutschland wollte sie unsere geliebte Familie und unser schönes Somalia verlassen. Wollte ihr geordnetes Leben aufgeben und faselte wirre Gedanken und ketzerische Worte von Freiheit, Selbstbestimmung und sexueller Bevormundung. Als ob solche Worte satt machen würden?! Mit diesen dummen Phrasen wurde ihr reines Herz von diesem Ausländer vergiftet. Das konnten meine Brüder nicht zulassen. Bei der Ehre unserer Familie!
Mein Vater ist stolz auf meine Brüder, sie wurden nach Landesrecht und Stammessitte freigesprochen und meine Schwester ist tot, ein bedauerlicher Unfall, da will ich mich lieber anpassen und aufpassen und gehorchen.
Ich könnte Ihnen noch mehr Ereignisse aus meinem jungen Leben erzählen, aber Sie haben ja wahrscheinlich keine Zeit und außerdem werden Sie sich vielleicht langweilen und fragen, wo in der Welt um Gottes Willen solche Dinge überhaupt geschehen.
Ich habe es ja bereits berichtet: Ich komme aus dem fernen Afrika und bin jetzt froh, in Berlin zu leben. Hier fühle ich mich endlich sicher. Denn in Neukölln würde das, was ich Ihnen geschildert habe, bestimmt nicht geschehen. Davon bin ich überzeugt.
Ach, es war so angenehm und befreiend, einmal mit Ihnen zu plaudern, und ich danke Ihnen fürs geduldige Zuhören …
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