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Heiligabend in Spanien (Fünfte Weihnachtsgeschichte)

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© Michael Kuss   
   
Hendrik Moolendijk war alles andere als ein Abenteurertyp. Als Inhaber von Moolendijk-Mediterranea-Immobilien waren ihm Risikogeschäfte und unüberlegtes Handeln fremd. Sein Imperium von Villen, Golfplätzen und Wohnparkanlagen an der spanischen Mittelmeerküste hatte er sich nicht durch Risikogeschäfte und gewagte Spekulationen erworben, sondern in zweiundzwanzig Jahren durch gezielte Planung, überschaubare Investitionen und systematischen Fleiß, aber auch mit Ellenbogen und Durchsetzungsvermögen.
Herr Moolendijk stammt aus einer alten Amsterdamer Kaufmannsfamilie, die sich sehr früh und lange vor dem spanischen Immobilienboom in den Touristengebieten der Costa del Sol niedergelassen und in weiser Voraussicht spottbillig karges Land aufgekauft hatte.
Das spröde und strukturarme Land wurde nach dem Tod Francos und mit der danach einsetzenden liberal-ökonomischen Entwicklung Spaniens zu Bauland und zur Goldmine. Spaniens Hinwendung zu Europa hatte Moolendijks erfolgreiche Firmenentwicklung ebenso gefördert, wie seine geschickte Heirat mit der Tochter von Don Cruiz-Hernandez. Don Cruiz besitzt weitläufige Olivenhaine im andalusischen Hinterland und war Herr über eine Farm bei Córdoba, wo gute und teuere Stiere gezüchtet wurden, die in allen namhaften Arenen Spaniens zum Einsatz kommen.
Senorita Cruiz war die einzige Tochter und die Alleinerbin dieses Reichtums. So kam nach der Heirat mit Herrn Moolendijk außer einer Portion persönlicher Zuneigung auch viel Geld und Macht ins Spiel. Zumal der Niederländer seine Hände auch in anderen lukrativen Geschäftszweigen hatte; eine Großbäckerei, eine Schlachterei, eine Autovermietung und ein Gastronomiezulieferbetrieb, die mit jenen Massenhotels zusammenarbeiteten, in denen Touristen aus ganz Europa ganzjährig für Umsatz und weiteren Reichtum sorgten.
Wie gesagt, Moolendijk war als Mann der stabsplanmäßigen, umsichtigen Mosaikarbeit alles andere als ein Hasardeur oder leichtsinniger Abenteurer. Um so mehr mag es verwundern, dass der Kaufmann am Nachmittag des Heiligabend etwas völlig Spontanes und, wie er sich später eingestand, Unbedachtes und Verrücktes tat: Er ließ seinen Wagen in der Garage, zog sich Jeans und Lederjacke an, setzte sich auf ein Motorrad und fuhr einfach drauflos.
Erst ließ er sich durch die engen Altstadtgassen Marbellas treiben, grüßte im Vorbeifahren winkend und durch lässige Zurufe ein paar Bekannte, die an diesem sonnigen Vorweihnachtstag müßig und schon in Feiertagsstimmung auf den Terrassen der Bodegas und Cafés in den Straßen zwischen der Avenida Ricardo Solano und der Avenida de Arias de Velasco saßen.
Die Leute waren mehr oder weniger wichtige Anhängsel seines Geschäftsimperiums; ein Papierwarenhändler, ein Klubbesitzer mit einer seiner Freundinnen, ein paar reiche Müßiggänger und Spekulanten. Da genügte zur Höflichkeit ein joviales Nicken oder ein cooler Handgruß. Der Niederländer galt zwar nicht als ausgesprochen arrogant, aber er wusste mit sicherem Instinkt Distanz zu wahren oder Nähe zu gewähren, je nach Bedarf.
Dann hatte er die Höhen der Altstadt hinter sich, hatte die Autopista überquert, war eine ganze Weile bergauf den Camino de los Pescadores gefahren und befand sich, ohne dass es ihm richtig bewusst geworden wäre, auf einer Straße, die zunächst noch asphaltiert war, aber dann ohne Übergang zu einer Schotterpiste wurde und schließlich in einen Feldweg mündete, den Moolendijk nicht kannte.
Längst waren am Wegrand die kleinen Häuschen und Hütten ärmlicher und seltener geworden. Hier wohnten nicht mehr die Reichen und Schönen, nicht einmal der spanische Mittelstand von Marbella hatte sich in dieser Öde niedergelassen, sondern Landarbeiter oder kleine Hotelangestellte, die soviel Monatslohn bekommen, wie Moolendijks bezaubernde Frau in zehn Minuten beim Shoppen in einer Boutique ausgibt.
Moolendijk hatte seiner Frau nichts von seiner spontanen Idee gesagt. Er wollte sie nicht stören; ihre Hausfriseurin gestaltete ihren Kopf, um sie für den Weihnachtsempfang zu dekorieren. Moolendijk würde am Abend im Plaza eine Party geben, wovon Insider seit Wochen sprachen. Richtiges Weihnachten wird in Spanien erst am Dreikönigstag begangen; der Heiligabend ist für Empfänge, für Partys und Tanz vorgesehen. Soll sich seine Frau also herausputzen. Solange sie sich wohlfühlt, läuft alles bestens. Dem geschäftlichen Erfolg wird es wie immer gut tun.
Die Schwiegereltern werden mit Familie und Geschäftsfreunden kommen; im Schlepptau der deutsche Generalkonsul aus Malaga, der an der Costa del Sol politisch, finanziell und gesellschaftlich als heimlicher Strippenzieher galt. Dann Moolendijks Firmenanwälte und zwei arabische Scheichs, die viele Petrodollars in luxuriöse Spanienimmobilien investieren wollen. Am Ende der Feiertage würde Moolendijk um einige Millionen reicher sein.
Der Rest der Gästeliste bestand aus der üblichen Marbella-Schickeria, teils wichtige Leute, um die man nicht herumkommt, teils dekorative Garnierung, die man benutzt wie Christbaumschmuck; ein erfolgreiches Gemisch aus Neureichtum, spanischem Adel und lokaler Politik, kurzum jene erlauchten Geldkreise, die Marbella und die Costa del Sol vom rustikalen Malaga bis zum mondänen Sotogrande unter sich aufgeteilt haben und beherrschen. Hendrik Moolendijk gehörte seit vielen Jahren dazu. Er hatte es geschafft.
Auf seiner Fahrt durch das unwegsame Gelände war die letzte Hütte hinter dem Horizont verschwunden; der Weg wurde zum holprigen Trampelpfad, der sich zwischen schroffen Felsen, kargem Buschwerk und Kakteen tiefer ins Landesinnere hineinschlängelte.
Moolendijk verstand sich selbst nicht; er fuhr weiter, gab immer wieder Gas, jonglierte mit den Bremsen, jede Kurve war ihm eine Herausforderung, jede überwundene Steigung wie eine Befreiung. Er erschrak bei dem Gedanken an die Freiheit. Freiheit hat sich den ökonomischen Forderungen des Lebens unterzuordnen. Freiheit ist für Moolendijk zunächst Verantwortung und Disziplin. Danach kann man auch die Früchte ernten.
Aber jetzt wollte er es einmal genießen, dieses kleine Stück gestohlener Freiheit. Ohne nachzudenken, nur noch eine Weile so weiter fahren, noch eine halbe Stunde dieses Gefühl von Unbändigkeit spüren, den Fahrtwind und die würzige Luft der andalusischen Berge, noch einen Augenblick in seine Jugendzeit entschwinden, dann würde er wenden, zurückfahren in die geordnete Sicherheit seiner Welt.
Er würde die Motorradbekleidung mit dem Smoking tauschen, ausgiebig duschen, an der Seite einer attraktiven Frau die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Geschäfte geschickt anbahnen, Fäden ziehen und Kontakte knüpfen, mit Champagner und gesetzten Worten den Abend gestalten, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Das war seine Welt, durch nichts zu erschüttern.
Es war gegen Vier am Nachmittag des Heiligabend, als Moolendijks Motorrad zu stottern begann. Er zog die Kupplung, gab Zwischengas, das Motorrad heulte noch einmal auf und dann war es von einer Sekunde auf die andere beklemmend still.
Hendrik Moolendijk ist nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Zwar reagierte er sich mit einem Fluch ab, dann aber ging er gewohnt systematisch vor. Er kennt sich mit Motoren aus. Das Benzin kann es nicht sein, der Tank noch fast gefüllt. Moolendijk bockte die Maschine auf und begann mit der Kleinarbeit. Noch war es hell, die Dämmerung kündigte sich zwar an, aber bis zur Dunkelheit würde Moolendijk den Fehler gefunden haben. Er reinigte die Zündkerzen, legte den Vergaser frei, überprüfte die Kontakte, und als die Maschine noch immer nicht ansprang, schob er sie an, bergab rollend, schwang sich darauf, legte den Gang ein, - aber der Motor blieb stumm bis auf ein Röcheln; zu wenig für den Zündvorgang.
Moolendijk rollte weiter bergab, zog abwechselnd die Gänge, Leerlauf, Gang, Leerlauf, Gang und dann passierte es: In einer Haarnadelkurve verlor er die Gewalt über die Maschine, sie scherte aus, rutschte ihm unterm Hintern weg, Moolendijk überschlug sich, spürte Schmerz in den Schultern, lag gekrümmt am Boden und sah, wie die Maschine vom Wegrand abrutschte und in die felsige Schlucht stürzte. Tief unten hörte man das Aufschlagen von Metall auf Stein, Funken sprühten und dann erfolgte auch schon die Explosion und die Flammen erhellten für ein paar Minuten das Felsgestein.
Moolendijk versuchte sich aufzurappeln, aber der Schmerz in den Schultern war zu stark und so blieb Moolendijk sitzen. Nach den ersten Schockminuten begann er seine Gedanken zu ordnen; strategisches und überlegtes Vorgehen war auch in ausweglos erscheinenden Situationen Moolendijks Stärke.
Er angelte sich das Handy aus der Tasche und drückte Tasten. Zunächst seine Frau informieren und beruhigen. Dann den Firmenanwalt, der alles Nötige in die Wege leiten würde. Notfalls würde Moolendijk ein Feuer machen und sie würden einen Hubschrauber schicken und ihn finden und an einem Seil hochwinden, denn landen konnte ein Helikopter hier nirgends. Moolendijk schmunzelte sogar bei diesem abenteuerlichen Gedanken und hielt das Handy ans Ohr.
Doch es war kein Ton zu hören. Das Display blieb dunkel, kein Zeichen war zu sehen. Ungläubig schüttelte er das Handy, ging die ihm bekannten Fehlerquellen durch, schließlich ließ er die Hand sinken, fluchend und zum ersten Mal entmutigt. Ohne Kommunikation überkam Moolendijk das unbekannte Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Es dunkelte. Bald würde die Nacht vollständig hereinbrechen. Die ersten Sterne waren erkennbar, aber weit und breit kein Licht, das auf Menschen hindeuten könnte. Marbella und die Küste lagen vierzig oder mehr Kilometer hinter den Hügeln. Moolendijk begann zu frieren. Im bergigen Hinterland Spaniens werden Dezembernächte zum Kühlschrank, egal wie warm es tagsüber ist.
Der Verunglückte stemmte sich hoch und lief los; schleppend und unter Schmerzen setzte er Fuß vor Fuß. Was sollte er anders tun als zu laufen?! Er konnte schlecht sitzen bleiben und warten. Auf wen und was? Auf den Hunger? Die dunkle Nacht? Einen glücklichen Zufall? Er konnte nur hoffen, den unbekannten Weg zurück oder ein Licht, Menschen, eine Hütte zu finden, mit Telefonleitung oder einem Transportmittel, egal was es kosten würde, mit Geld lässt sich alles regeln.
Vielleicht hat man irgendwo das Feuer gesehen und würde Hilfe schicken? Aber die Maschine war schnell auf dem Felsgestein ausgebrannt, es gab dort unten kein Buschwerk, das Feuer hätte fangen können. Und wer sollte hier draußen etwas sehen? Hier lebt niemand, vielleicht außer kleinem Getier. Oder gab es hier Wölfe und Geier? Sogar von Bären war schon die Rede gewesen. Moolendijk schüttelte sich. Wie wenig er von dem Land wusste, in dem er schon so lange lebte.
Er schlurfte weiter. Müdigkeit und Hunger überkamen ihn, und ganz langsam schlich sich Angst ein. Wenigstens einen Schluck Wasser könnte er jetzt gebrauchen. Er biss die Zähne zusammen, weiter, weiter, der Trampelpfad verzweigte sich, Moolendijk hatte die Richtung verloren. Dunkelheit, Angst, Hunger und Durst waren eine erschreckende, für Moolendijk völlig unbekannte Allianz eingegangen.
Es war fast sieben Uhr geworden. Spätestens in einer Stunde würden sie ihn vermissen. Aber wie sollten sie kombinieren, wie etwas von seinem Ausflug wissen? Sicher, sie würden alles in Bewegung setzen, die Polizei einschalten und die Guardia Civil würde auch sofort aktiv werden. Wenn seine Frau oder Don Cruiz die Aufforderung dazu gaben, setzten sich in Marbella Steine in Bewegung.
Aber wo sollten sie mit der Suche beginnen? Zuerst vielleicht am Strand oder bei allen Bekannten. Aber wohl zuletzt in dieser unwegsamen Hügellandschaft, weit weg von Moolendijks üblichen Aufenthaltsorten. Oder man zog eine Entführung oder sogar einen Mord in Betracht?! Feinde und Neider hatte Moolendijk reichlich. Von hergelaufenen Konkurrenten bis zu gefährlichen ökologischen Spinnern und politischen Gegnern. Er war Realist genug, um seine Situation nüchtern einzuschätzen. Er konnte nichts mehr planen und nichts mehr geschickt einfädeln. Moolendijk hatte die Kontrolle verloren. Kontrollverlust war für ihn einer der schlimmsten Albträume. Jetzt konnte er nur noch auf Glück und Zufall hoffen.
Seine Gedanken kreisten um den Abendempfang, um Lichter und Gesichter, die fragenden Gäste, die geplatzten Geschäfte, der entgangene Gewinn, sein Ansehen würde leiden, und zuletzt dachte er auch an seine Frau, die sich bestimmt Sorgen macht. Wenn auch die Liebe nicht überdimensional ist, so herrscht in dieser Ehe doch Zuneigung und Respekt und vor allem Verantwortung für das große Ganze. Er liebte seine Frau wegen ihrer Vernunft und ihrer Verlässlichkeit und schön und reizvoll war sie ebenfalls.
Acht Uhr!
Jetzt werden sie das Buffet eröffnen. Seine Frau wird einleitende und entschuldigende Worte sagen; schließlich wird auch der deutsche Generalkonsul hilfreich eingreifen. Das alte Schlitzohr, Chef der deutschen diplomatischen Vertretung in Malaga, findet immer eine Lösung. Vielleicht stürzt sich auch alles aufs Buffet und den Champagner, und Anwalt und Konsul würden den Abend irgendwie retten, wenngleich die Sache mit den Arabern nicht so einfach zu verschmerzen war.
Moolendijks Gang wurde beschwerlicher. Waren Schulter oder Rippen gebrochen oder geprellt? Wie lange würde er aushalten? Wann würde ihn die Kraft verlassen?
Eine flinke Feldmaus huschte über den Weg, von irgendwo war sogar der Ruf eines Vogels zu hören. Die Kakteen ragten ihre Köpfe als Silhouetten in den nächtlichen Weihnachtshimmel, sonst herrschten ringsum Stille und Einsamkeit.
Beinahe hätte Moolendijk angehalten, um die Hände zu falten und zu beten. Mit einem zynischen Lachen verwarf er den Gedanken. Beten, das war etwas für die Heilige Messe an jenen Sonntagen, an denen sich die beiden Familien öffentlich wirksam in der Iglesia de la Incarnacion zeigten. Aber in schwierigen Momenten muss man kühlen Kopf bewahren. Gefühlsduselei nutzt jetzt überhaupt nichts und macht alles nur noch verworrener. Also schleppte er sich weiter durch die Dunkelheit, bis er plötzlich hinter Büschen den Lichtschein sah.
Es war ein schwaches Licht in einem kleinen Fensterrahmen. Eine armselige Hütte, wie sie sich Schäfer als Unterschlupf bauen und wie man sie mitunter hier draußen noch finden kann, meistens verlassen, denn hier kommt niemand mehr hin, seit der Boden ausgetrocknet ist und das Trinkwasser aus dem Hinterland nach Marbella und in die Touristenorte der Küste bis Estepona oder Algeciras geleitet wird. Selbst für den ärmsten Bauern war der Boden wertlos.
Moolendijk schaute durch das Fensterchen ins Innere. Es war nur ein Raum erkennbar; in der Ecke war ein einfacher Kamin eingelassen, in dem einige Holzscheite brannten. Die Wände bestanden aus groben, unverputzten Steinen, wie man sie hier draußen in Massen auflesen und zum Haus- oder Brunnenbau verwenden kann.
Früher, als die Wasserquellen noch nicht versiegt waren, hatten ein paar Obst- und Gemüsebauern mit den Steinen Mauern und Terrassenstützen gebaut, um dem spröden Land wenigstens etwas Nahrung abzuringen. Aber die Kleinbauern waren ausgestorben oder hatten sich als Hilfskräfte in die Touristengebiete verdingt. Nur vereinzelte baufällige Hütten wie diese waren zurückgeblieben. Es mussten seltsame Kauze sein, die in einer solchen Hütte am Heiligabend ein Dasein von Einsiedlern fristeten.
Auf dem Holztisch stand ein Adventskranz mit vier roten, brennenden Kerzen, die den Raum und die Gesichter der beiden Menschen schwach erleuchteten. Die Frau und der Mann waren ungefähr Mitte Dreißig und sahen eher wie moderne Stadtmenschen, aber nicht wie verarmte Bauern aus. Sie saßen auf alten Holzstühlen am Tisch; der Mann klimperte auf einer Gitarre und die Frau las in einem Buch. Auf dem Tisch standen eine halb volle Weinflasche, zwei Gläser und ein Teller mit Gebäck.
Für wenige Sekunden war Moolendijk verunsichert. Er wollte zaghaft an die morsche Tür klopfen, aber dann überkam ihm wieder seine herrische Art, eine Situation in die Hand zu nehmen und zu kontrollieren. Er, Moolendijk, brauchte Hilfe und Rettung, und diese Rettung lag vor ihm, lag in dieser Hütte bei den beiden Menschen, und Moolendijk fragte nicht was die beiden hier machen und wie sie hierher gekommen sind.
Die Fakten waren klar: Hier gab es etwas gegen Hunger und Durst, hier gab es wohl auch ein Telefon oder wenigstens ein Handy und höchstwahrscheinlich auch ein Fahrzeug, das er mieten, bezahlen, gut bezahlen wird, und dass ihn in kürzester Zeit zurück nach Marbella bringen konnte, zu seinem Empfang, zu seinesgleichen, weg von dieser Armseligkeit und Verlassenheit.
Moolendijk klopfte energisch ans Fenster. Das Paar blickte auf. Moolendijk hatte seine Stirn nahe an die Scheibe gedrückt, hoffend sie würden ihn im schwachen Licht sehen. Er versuchte einen freundlichen und Vertrauen erweckenden Gesichtsausdruck und strich winkend mit den Händen an der Scheibe entlang. Drinnen stand der Mann auf, ging zur Tür und öffnete sie einen breiten Spalt, sodass sich die beiden in voller Gestalt gegenüberstanden.
„Hola! Buena tarde!“ begrüßte ihn der Mann, aber bald merkte Moolendijk am Akzent, dass er einem Deutschen gegenüberstand und so grüßte Moolendijk in Deutsch zurück. „Später Besuch am Heiligabend!“ sagte der Deutsche und öffnete mit einer einladenden Handbewegung die Tür. Als er den blutig geschabten Unterarm sah, fügte er hinzu: „Sie sehen ja ganz schön mitgenommen aus! Unfall? “
Auch die Frau war aufgestanden und rückte den Stuhl für den Ankömmling zurecht. Für sich selbst holte sie eine Holzkiste aus einer Ecke und stellte sie an den Tisch. „Ihre Wunde muss versorgt werden!“ sagte sie. „Was ist denn passiert?“ Sie ging in die abgedunkelte Ecke zurück und wühlte in Holzkisten, die primitiv zu einem Schränkchen zusammengebastelt waren. „Wir haben kein Verbandszeug da, aber frische Taschentücher und etwas Schnaps, das wird auch gehen …!“ Die Frau sprach ein helles und klares Englisch, wie es nicht im Londoner East-End, sondern im britischen Bildungsbürgertum gesprochen wird. Ohne Umstände griff sie nach Moolendijks Arm und reinigte die Wunde mit Schnaps. „Es ist nichts gebrochen!“ sagte sie mit Bestimmtheit. „Aber mehrere Prellungen!“ Als Moolendijk sie fragend anschaute, sagte ihr Mann: „Elisabeth ist Krankenschwester“.
Moolendijk schaute wortlos auf den Tisch mit den Plätzchen. „Bedienen Sie sich!“ sagte der Deutsche und deutete auf den Teller. „Wir haben noch mehr. Sie können auch Brot und Wurst oder Käse haben!“ Er ging zum Schrank und kam mit Brot und einem Stück steinhartem spanischen Manchega zurück. Die Frau brachte eine Tasse, sagte „wir haben nur zwei Gläser“ und goss Wein ein. Die beiden sahen Moolendijk abwartend an.
„Kann ich Ihr Handy benutzen?! Ich müsste meine Frau anrufen und dann meinen Anwalt und ein paar Geschäftsfreunde. Ich kann Ihnen natürlich alles bezahlen!“ Moolendijk griff in seine Gesäßtasche und zog die Brieftasche heraus.
„Wir haben leider kein Telefon. Nicht einmal Strom und auch kein Handy!“ Der Mann lächelte entschuldigend.
„Kein Handy?“
„Nein, auch kein Handy!“ sagte die Frau ruhig und goss noch einmal Wein in die Gläser nach.
„Aber …, wie …, ich meine …?“ Moolendijk war sichtlich überrascht. Unglauben mischte sich mit Nervosität.
Der Mann sagte „Es geht auch einmal ohne! Wir wollten Weihnachten mal völlig alleine sein …!“ Er streifte mit der Hand durch die Luft, als wollte er alle seine Erläuterungen darin einschließen. „Kein Handy, kein Festessen, keine Geschenke, kein Stress! Nur wir beide, unsere kleine Hütte hier, drinnen ein Feuerchen und draußen die Natur…!“
„Aber Sie haben doch sicher ein Auto? Einen Jeep?“ fragte Moolendijk. „Oder wie sind Sie hier heraufgekommen?“
„Haben Sie nicht hinter unserer Hütte den Esel und den Karren gesehen?“ fragte die Frau und lächelte schon wieder. „Damit haben wir alles für unser Weihnachtsfest transportiert. Wein, Wasser, Brot, Nahrung, Bücher und uns selbst!“
„Und Fernsehen und Radio?“ Irgendein bisschen Komfort werden sie hier doch haben. Die beiden sehen doch nicht aus wie Aussteiger oder ausgeflippte Hippies. Es sind doch ganz normale und anständige Menschen. Zugegeben, ein bisschen verrückt, aber nicht gefährlich und ansonsten bestimmt brauchbare Mitglieder unserer Gesellschaft. Was die beiden wohl beruflich machen? Nun, viel verdienen werden sie wohl nicht.
„Wir haben unsere Gitarre!“ sagte der Mann. „Und Elisabeth hat eine herrliche Stimme. Sie kann singen wie ein Engel!“ Der Mann legte den Arm um die Frau und schmiegte sich an sie.
„Ich weiß nicht recht …, was mache ich denn jetzt bloß?“ Moolendijk war irritiert. Er hatte bisher nahezu jede Situation im Leben meistern können. Diese aber machte ihn unsicher und er sagte: „Ich, - ich hatte gehofft …“.
„Essen Sie erst einmal!“ sagte die Frau. „Stärken und beruhigen Sie sich ein bisschen. Es läuft Ihnen doch nicht wirklich etwas davon! Oder?“ Sie deutete auf ihren Gefährten. „Eric kann Sie nachher mit dem Esel runter an die Küste bringen. Die beiden kennen den Weg sogar in betrunkenem Zustand. Es wird für Sie ein bisschen ungewohnt sein, aber in drei bis vier Stunden spätestens sind Sie unten …!“
Moolendijk schwieg. Er schnitt Käse ab und steckte ihn in den Mund. Dann spülte er bedächtig mit einem Schluck Wein nach. Die Frau lachte wieder und warf ihre langen Haare mädchenhaft kokett nach hinten über ihre Schultern. Sie schwankte leicht, als sei sie schon etwas beschwipst, und der Mann sagte: „Wenn Sie wollen, können Sie aber auch hier übernachten. Wir haben genügend Strohsäcke und noch eine Decke. Wir lassen das Kaminfeuer an und haben auch noch genug Wein für die innere Erwärmung“.
Während die Engländerin sich am Schrank zu schaffen machte, ging der Deutsche nach draußen, holte ein paar kräftige Äste herein und drapierte sie auf dem Feuerchen im Kamin. Die Flammen züngelten kräftiger und die Wärme strahlte durchs Zimmer.
Moolendijk war vor die Tür getreten. Er sah den Sternenhimmel, roch den Nachtduft von Zedern und Pinien, hörte hinter der Hütte den Esel scharren und sah den Holzkarren, auf dem zwei Wasserkanister standen.
‚Ob man hier was bauen könnte?’ überlegte Moolendijk. ’Vielleicht alternative Hütten für Aussteiger?! Von diesen seltsamen Zeitgenossen soll es ja immer mehr geben. Ob das eine Marktlücke sein könnte?’ Er ging in die Stube zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Der Deutsche hatte Wein nachgegossen und die Engländerin legte noch Plätzchen auf den Teller. „Selbst gebacken. Greifen Sie zu!“ sagte sie lachend und mit einer Natürlichkeit, die Moolendijk fremd war.
Leise und unsicher, als hätte er Angst die Stille zu stören, in der nur noch das Prasseln des Feuers zu hören war, sagte er zu den beiden: „Wenn ich noch einen Augenblick hier sitzen bleiben könnte, wäre ich Ihnen dankbar“.
„Bleiben Sie!“ sagte die Frau. „Bleiben Sie und machen Sie sich keine Sorgen!“
Moolendijk schwieg einen Moment, als hätte er den Faden verloren oder als sei er sich seiner Gedanken nicht sicher. Dann fügte er zögernd hinzu: „Nur noch einen ruhigen Augenblick zum nachdenken...“.
„Aber ja!“ sagte die Frau und tauschte einen Blick mit ihrem Lebensgefährten aus. Dann saßen sie alle um den Tisch herum und schauten schweigend in die Flammen des Kaminfeuers. Nur ab und zu wurde die Stille vom Knacken der brennenden Holzscheite unterbrochen, wenn die Funken wie Glühwürmchen hochstieben und noch in der Luft oder auf den Steinplatten vor dem Kamin verglühten.
Irgendwann hob Moolendijk den Kopf. Im Wechsellicht der Flammen wirkte sein Gesicht plötzlich entspannt. Es schien den beiden, als hätten seine Augen ihre Härte verloren, als sei in den letzten Minuten eine innere Veränderung mit ihrem Gast vorgegangen.
„Ich möchte Sie etwas sehr Persönliches fragen“ sagte Moolendijk unvermittelt und sah die beiden abwechselnd an. Seine Stimme klang leise und ein bisschen schleppend, als wäre er sich seiner Worte nicht sicher. „Ich möchte Sie fragen, ob Sie – ob Sie glücklich sind?!“
Die beiden Einsiedler schauten sich einige Sekunden lang an. Dann fragte die Frau zurück „Und Sie? Sind Sie glücklich?“
Als Moolendijk keine Antwort gab, schwiegen sie wieder, schauten auf die Flammen im Kamin und alle wurden nachdenklich.
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